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Produkttester

2013-08-23 15.33.16Vor einigen Wochen wurden wir angefragt, ob wir nicht einen neuen experimentellen Taschenrechner testen wollten, der noch nicht auf dem Markt sei.
Das klang aufregend. In der Anfrage wurde versichert, es handle sich nicht um Werbung und wir sollten uns nicht bedrängt fühlen, irgend etwas Journalistisches zu verfassen – eine kleine Rückmeldung wäre aber nett.

Was hatten wir zu verlieren? (Darauf komme ich später nochmal zurück!)

Wir bekamen also mit der Post den HP Prime Graphing Calculator, laut Werbebroschüre ein “fleißiger Helfer für alle Schüler und Studenten, Lehrer und Technikbegeisterte”, voraussichtlich ab Ende September 2013 für lächerliche 159 €uro verfügbar.

Ein ganz schön beeindruckendes Gerät hielten wir da in der Hand. Von unseren Erfahrungen wollen wir – entsprechend unseren Anforderungen – zweigeteilt berichten: Ich habe mich auf den möglichen Einsatz in der Schule konzentriert – Nils hat den Taschenrechner mit in die Universität genommen und geschaut, ob er giftigen Dämpfen und ätzender Säure widersteht.

Jan-Martin (Einsatzgebiet: Schule)

2013-08-23 15.40.13Mitte der 7. Klasse habe ich für 15 DM meinen Taschen-rechner bekommen – das ist mittlerweile fast zwanzig Jahre her – und das Ding benutze ich heute immer noch. Ein guter alter TI-30Xa Solar. Damit bin ich durchs Abitur und auch (mehr schlecht als recht) durchs Studium gekommen. Sieht nicht mehr ganz frisch aus – läuft aber wie am ersten Tag.
Den Vergleich zum HP Prime Graphing Calculator muss der alte gar nicht erst antreten.

Das entscheidende Argument gleich zu Beginn: 159 Euro sind nicht zu vertreten. Für das Geld kann man sich heutzutage ein 7” Android-Tablet inklusive teurer Calculator-App kaufen und kann den Tablet dann auch für andere Dinge benutzen. Bei 159 Euro kann ich jede Rezension mit Fokus auf “Schule” eigentlich an dieser Stelle beenden.

Tatsächlich bin ich etwas erschlagen von den vielen Funktionen.
Zumindest in der Sekundarstufe 1 beschränkt sich das Rechnen ja zu 90% auf das Lösen von Gleichungen oder Zins- und Prozentrechnung etc. Dafür ist weder ein Touchscreen noch ein grafischer Taschenrechner vonnöten. Und auch nach bald zwanzig Jahren habe ich keine Ahnung, wofür die Tasten CSR oder FLO oder nCr auf meinem alten TR da sind – ganz zu schweigen von den Millionen Möglichkeiten des Neuen.

Spannend finde ich die Möglichkeit des HP Prime, Umfragen zu erstellen. Der Lehrertaschenrechner erstellt eine Frage und die Schüler-TRs können dann (a), (b) oder sonst was antworten. Ist aber auch in der Realität nicht so durchdacht: Man muss den TR nämlich zunächst durch ein WiFi-Modul ergänzen (Schüleranzahl x Preis?) und dann das WLAN einrichten und… “Ach… hebt doch einfach die Hand: Wer denkt, dass (A) richtig ist?”

Um nicht ganz unfair zu sein, habe ich den Taschenrechner einem Kollegen in die Hand gedrückt, der (im Gegensatz zu mir) auch in der Oberstufe Mathematik unterrichtet.
Der zeigte sich sehr beeindruckt, wies mich aber auf einen interessanten Punkt hin: Da der Taschenrechner CAS-fähig sei, müsse man beim Abitur (wo man zwischen zwei Themen wählen könne) nun definitiv das schwerere nehmen. Hmmja. Ich bin einmal mehr dankbar, mich mit sowas nicht rumschlagen zu müssen.

Am Ende kann ich den HP Prime Graphing Calculator nicht für den Schuleinsatz empfehlen und bleibe lieber bei meinem alten TI-Rechner. Der erfüllt seine Zwecke voll und ganz.

 

Nils (Einsatzgebiet: Chemielabor)

Zu Beginn macht der HP Prime Graphing Calculator einen super Eindruck. Robust, schön großes Display, gute Farben (für einen Taschenrechner).

Nach ein wenig Einarbeitungszeit konnte die so gut aussehende Wunderkiste voll ausgetestet werden. Einfache Rechnungen, Matrizen, Gleichungssysteme, Funktionen. Der Taschenrechner bietet alles was das Wissenschaftlerherz begehrt. Doch im Praxistest fällt schnell auf, dass es schwierig ist, die Funktionen gewinnbringend zu verwenden. Neben den relativ hohen Eingabezeiten der Funktionen und Daten, die auch durch ein Touchdisplay keine Rekordzeiten aufstellen, hat der Rechner seine Grenzen. Einfachste Operationen werden schnell und vernünftig im Home-Display berechnet und dargestellt. Alle anderen Applikationen erfüllen zuverlässig ihren Zweck, doch betrachtet man anschließend die Ergebnisse genauer kommt man schnell zu dem Entschluss, dass das Gerät eine nette Spielerei ist und einiges kann, andere Geräte es aber besser können. Gespannt war ich auf die Applikation zur Berechnung von Matrizen. Doch auch da fehlte es an der notwendigen Materie. Der TR bietet ausschließlich die Berechnung von 2×2 und 3×3 Matrizen was gut gemeint ist, aber ich bin mir sicher, dass ein Rechner mit 400 MHz Prozessor auch mehr auf dem Kasten haben könnte. Außerdem: Jedes Tabellenkalkulationsprogramm ist heutzutage in der Lage sämtliche Funktionen des Rechners auszuführen und vor allem auch Ergebnisse zu exportieren, was in der Wissenschaft eine notwenige Bedingung für die weitere Datenverarbeitung darstellt. Funktionen und Matrizen kann man sich ebenfalls von kostenlosen Applikationen wie dem Online-Portalen www.Wolframalpha.com und www.matrizenrechner.de berechnen lassen. Auch in den jeweiligen App-Stores werden heutzutage Applikationen angeboten die vergleichbare oder sogar bessere Qualität in der Bedienbarkeit bieten. So gibt es für das iPhone und das iPad die kostenlose Quick Graph App, die mit einem wirklich umfangreichen Angebot an Möglichkeiten punkten kann und ein großes Publikum vom Schüler bis zum Professor bedienen kann. (https://itunes.apple.com/de/app/quick-graph-your-scientific/id292412367?mt=8).

Trotz alledem möchte ich den Rechner nicht schlechter machen als er ist. Ich betrachte das Gerät ausschließlich aus dem Alltag eines forschenden Wissenschaftlers und bin der Überzeugung, dass irgendwo da draußen eine Zielgruppe rumrennt für die das Spielen mit dem Rechner eine große Freude ist. Ob die allerdings gewollt sind für den Spaß auch rund 150 € zu bezahlen mag ich zu bezweifeln.

Alles in allem hat sich HP viel Mühe mit ihrem Gerät gegeben. Es sieht klasse aus, hat alle Funktionen die man für grundlegende Operationen der Mathematik benötigt und kommt mit USB-Buchse und dem dazugehörigen Ladekabel. Doch meiner Meinung nach kommt das Gerät zwei Jahrzehnte zu spät auf den Markt. Das unendliche Onlineangebot, die Möglichkeit der Nutzung kostenloser Applikationen für Pods und Pads, so wie der unglaubliche Preis machen den  HP Prime Graphing Calculator zum Expensive Prime Emulator.

 

 

Fazit:

 

Positiv:

  • Das Menü und aller Text ist in “deutschem Deutsch” verfasst. Kein “Drücke sie Bj9 um zu plotte das Fkt.”
  • Handbuch ist im Taschenrechner drin – die Taste “Hilfe” hat kurz und knapp jede Funktion erklärt
  • Die Batterie hielt sehr lang – zumindest haben wir den Taschenrechner in unserer zweiwöchigen Testphase kein einziges Mal aufgeladen.

Negativ:

  • sehr teuer für einen Taschenrechner
  • zu teuer für einen Taschenrechner (!)
  • gefühlt 95% der Funktionen sind so speziell, dass man sie einfach nie braucht – statt dessen verwirren sie einen
  • entweder waren wir zu dämlich, oder es gibt noch ein paar Bugs im System: Wir waren nicht imstande, einfache Grundrechenarten auszuführen (s. Video):

    Irgendwie hängt der TR im Helligkeitsmodus fest. Auch neustarten änderte nichts.
    Erst nach einigem Rumdrücken, wechseln in andere Bereiche und neu probieren ging es irgendwann.

  • keine Exportfunktion
  • an der Uni (Chemie) beschränkt sich die Mathematik auf eine Handvoll Formeln, dafür reicht ein billiger TR aus; den Rest macht man man eher mit dem Computer

 

Bleibt die Frage von oben: Was haben wir zu verlieren?
Firmen verteilen ihre Produkte nicht aus Mildtätigkeit an Blogger, sondern sie verfolgen eine ganz bestimmte Absicht: Im Idealfall ist der Tester ganz begeistert und erreicht/wirbt tausende Leser für jenes Produkt. Werbung für lau, sozusagen.
So etwas kann aber auch in die Hose gehen – wenn die Tester gar nicht begeistert sind.
Es mag also sein, dass dies das letzte Mal gewesen ist, dass wir so eine Anfrage erhalten haben (zumindest von HP) – aber ich schätze, dass ist das Risiko, mit dem man leben muss ;-).

(Übrigens: Behalten durften wir das Gerät nicht. Wir mussten es HP wieder zurückschicken.)

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12 Gedanken zu „Produkttester“

  1. Leider sind ja alle Schultaschenrechner so unverhältnismäßig teuer. Ich erinnere mich an den TI Voyage 200, der noch immer an vielen Schulen angeschafft werden muss, 150 EUR kostet und seit ca. 10 Jahren nicht mehr weiter entwickelt wird und damit auch auf dem farb-/touchlosen Stand von vor 10 Jahren ist. Ich weiß gar nicht, ob es Verleumdung ist, wenn man Texas Instruments und Casio als Mafia bezeichnet – deshalb tue ich es ja auch nicht -, aber die beiden Konzerner wissen wohl ziemlich genau, dass sie ihre Rechner nur an Schulen loswerden, wo man noch einheitliche Hardware vorschreiben kann. Da kann man dann veraltete, überteuerte Technik noch viele Jahre lang Jahrgangssatzweise absetzen. An den Unis sind die CAS-Rechner ohnehin in vielen NW und Mathematik in den Klausuren gar nicht erlaubt. Mein Mathe-Studium habe ich ebenfalls mit dem guten alten TI30 durchgestanden.
    Zu den CAS-Rechnern und dem Abitur: Dort sehe ich die einzig löbliche Konsequenz des CAS-Einsatzes in der Schule (neben der viel schlimmeren Folge, dass die Schüler das schriftliche und das Kopfrechnen verlernen): Die Schüler lernen Zusammenhänge zu erkennen, ohne vorher zu Rechenknechten herangezogen zu werden. Ich habe mit meinem TI30 in der Schule Kurvendiskussionen durchgeführt. Ohne entsprechenden Rechner nicht immer leicht. Wenn man das dann konnte, blieb gar keine Zeit mehr, um sich mal anzusehen, wofür eine Kurvendiskussion überhaupt gebraucht wird. Dass diese Art der verstehenden, anwendungsbezogenen Mathematik als schwerer empfunden wird, steht dabei auf einem anderen Blatt.

    1. Ach ja, in der Hauptschule musste ich einen Haben der 50 € Kostete, und drei tage später kaputt war. habe dann alles mit einem Rechner für 5 € gemacht, und diesen sogar im Abi noch benutzt.

  2. Das Problem, was ich mit diesen Hyperrechnern vorallem habe, ist die Tatsache, dass viele Schüler heute nur noch lernen, welche Tasten sie drücken müssen, um ihr mathematisches Problem zu lösen, sie aber tatsächlich nicht mehr verstehen, was sie da eigentlich berechnet haben. Das ist sehr schade bzw. wird dann mehr Zeit auf die Funktionsweise des TR verwendet, statt erstmal die „Zu-Fuß-Variante“ zu lernen.

  3. Der HP-Rechner ist ein Rechner mit sog. RPN. Soll heissen: 2+3 funktioniert so nicht. Richtig wäre: 2 Enter 3 +

    Von CAS-Taschenrechnern halte ich aus o.g. Gründen auch nichts (noch viel weniger aber von GTR!). Dagegen sind CAS auf dem PC (MuPAD, Sage, Maple) wirklich ein echter Gewinn, wenn man das System richtig einsetzt und die Schüler jeden Schritt auch dokumentieren lässt.

  4. Hach, vielleicht hätte ich mich doch trauen sollen, Mathe Lehramt zu studieren…aber ich habe mittlerweile festgestellt, dass man mathematische Operationen auch bei der Rekonstruktion grammatischer Phänomene in Latein benutzen kann 😀 Aber versucht das mal jemanden zu erklären, ohne dass er euch für komplett bescheuert hält.

  5. Zu meiner Realschulzeit war der kauf eines Taschenrechners Pflicht. Der von der schule vorgeschriebene Rechner war von Casio hatte einen schwarz weiß Bildschirm und hat gebraucht!!! 150€ gekostet. Über den Touchscreen hatte ich mich gefreut. Dafür habe ich mich aber auch nie darüber beschwert, dass eine Funktion gefehlt hat.

  6. Pingback: Online-Lernen, Schulbücher & Katzenbilder - ...ein Halbtagsblog...

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