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Kinder kriegen, Kinder haben

2012-12-19 08.59.25Die schönsten Tage im Lehrerleben sind die, an denen man eine neue Klasse bekommt. Das ist wie die oft zitierte Packung Pralinen – man weiß nie, was man bekommt. Und da Jan und ich an einer Gesamtschule arbeiten, haben wir Kinder von jeder Sorte: die Defensiven, die Selbstbewussten, faule Intelligente, usw.

Wenn ich eine neue Klasse 5 bekomme, dann schaue ich mir vorher die Namensliste an und versuche für mich selbst zu raten, welche Kinder die besonderen Namen haben: Kann ich Grace erkennen? Charlotte-Elisabeth? Klaus? Das klappt zum Glück nie. Die neue Klasse sitzt vor mir und ich weiß nicht, welche Schulzuweisung die Kinder von der Grundschule bekommen haben, denn diese Daten liegen nur der Schulleitung vor. Ich gehe also vorurteilsfrei mit den Kindern um und die SchülerInnen stecken in keiner Schublade. Alles ist neu und sie werden so auf- und angenommen, wie sie vor mir stehen. Großartige Sache!

Das ist in meiner Klasse zweieinhalb Jahre her.

Die Kinder sind mittlerweile in die Pubertät gekommen und ich habe mir ein Bild davon gemacht, was die Kinder leisten können und wo Grenzen sein könnten. Es gibt aber (immer noch, nach mehr als 10 Jahren Schuldienst) eine Sache, die mich umtreibt, belastet und wütend macht: Das sind intelligente Kinder, die ihre Möglichkeiten nicht ausschöpfen können, weil sie zu Hause keine Unterstützung bekommen. Ich weiß, dass es für sie kein Problem wäre, sich Vokabeln zu merken oder die Namen der Länder in Europa, aber es gibt zu Hause niemanden, der sie weckt, Brote schmiert, sie vom Fernseher oder PC wegtreibt. Als Getränk für den Schultag gibt es jeden Tag die 1,5 l –Tüte Eistee und als Essen … heute leider kein Essen.

Manchmal haben die Kinder Geschichten, die mich traurig und wütend machen – und hilflos. Die schriftliche Bitte zum Gespräch wird ignoriert, ans Handy geht man nicht, die Haustür wird mir nicht geöffnet. Dem Kind geht es augenscheinlich gut: Es ist gesund, einigermaßen gepflegt, es spricht, ist blitzgescheit und wird den Hauptschulabschluss machen, weil niemand das Kind unterstützt.

In Deutschland hängt der Schulabschluss immer noch viel zu stark vom Familienhintergrund ab. Soll ich mich nach der Arbeit noch mit dem Kind für lau hinsetzen und lernen? Das würde das Kind als Strafe empfinden, und wenn um drei oder vier endlich Schulschluss ist, brauchen die Kinder eine Pause. Und ich auch. Ich bin ein Rad im Getriebe und versuche zu motivieren, zu helfen, Zuneigung und Zuwendung zu geben. Ach Scheiße.

4 Gedanken zu „Kinder kriegen, Kinder haben“

  1. Nach dem Ref am Gymnasium in der heilen Provinz bin ich derzeit an einer Gesamtschule in einer etwas abgewirtschafteten Gegend. Hier gibt es meines Erachtens auch viele Kinder, die etwas leisten wollen, aber keinen gestalterischen Input kriegen, vom Umfeld keine Unterstützung und Zuneigung erhalten. Einzig Energy-Drinks gibt es satt.

    Der einzige Trost: Einige Schüler kann man als Lehrer doch ein wenig aus dieser Lethargie herausziehen, Impulse geben, zusprechen, Kreativität wecken. Aber dir ist das zu wenig, oder?

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