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#10: Die Macht eines Gedichts

Bis hierher haben wir uns ein paar Erzählungen aus der Bibel angesehen, den Kontext betrachtet und die Einbettung in die Geschichte und wie die Welt seinerzeit aussah und das viele dieser Geschichten nur oberflächlich betrachtet voneinander unabhängige Erzählungen sind.
Es gibt einen roten Faden.
Als nächstes dann wollen wir diesen roten Faden tiefer ergründen und schauen, wie er mit der menschlichen Entwicklung verwoben ist.

In einem Artikel erwähnte ich einmal, dass die Bibel mit einem Gedicht beginnen würde (der Artikel ist lang, aber lesenswert) (er ist wirklich sehr lang – aber auch wirklich lesenswert). Einige weitere Gedanken dazu.

Die Bibel beginnt mit einem Gedicht, einem großartigen, lyrischen Gedicht mit einem Refrain und einem Rhythmus (denn natürlich hat Gott einen gewissen Groove), der sich zu einem Crescendo aufbläst, an dessen Ende die Menschen stehen.

Es ist ganz wichtig, sich bewusst zu halten, dass wir, wann immer wir die Bibel lesen, Literatur lesen. Form, Genre und Stil sind außerordentlich bedeutsam für das Verständnis dessen, was wir gerade lesen. Zum Beispiel gibt es eine ganze Sammlung von Gedichten im Alten Testament; das Hohelied – auch hier gibt es eine Art Refrain, der sich beständig wiederholt. Wenn man sich Vers für Vers durch das Hohelied durcharbeitet (oder womöglich eine Predigt über das Hohelied hört oder verfasst), dann wiederholt man immer wieder das gleiche. Nochmal und nochmal. Und wenn man versucht, sich logisch und strukturiert da durchzuarbeiten, hat man eine Menge Arbeit vor sich. Lässt man sich hingegen auf die Bilder und Metaphern und Szenen ein, die lose miteinander verbunden sind und erkennt das gemeinsame Bild der Liebe… da gibt es eine Menge zu finden.

Es bleibt jedoch die Frage, warum die Bibel überhaupt mit einem Gedicht beginnt. Zumindest heutzutage wäre das ein.. hm.. eher fragwürdiger Anfang.

Warum also diese Form?
Die Antwort liegt vielleicht darin, dass manche Wahrheiten wahrhaft nur durch Kunst ausgedrückt werden können.

Am Anfang gab es noch niemanden. Keiner sah den Urknall und niemand machte ein Foto.

Wie soll man – ohne Wissenschaft und all die Daten und Analysen, ohne die Rotlichtverschiebung der Sterne und Hypothesen und Berechnungen, wie soll man etwas beschreiben, dass jenseits aller Vorstellungskraft liegt?

Man könnte ein Gedicht schreiben.

Und wenn man die Geschichte des Exodus aufschreibt (was bedeutet, die Geschichte von Abraham aufzuschreiben (was wiederum bedeutet über einen Umbruch, eine neue Zeit zu schreiben)) dann muss ich auch ausführen, was zu dem Umbruch führte und das bedeutet, ich muss die Geschichte an ihrem Anfang beginnen.

Aber niemand war da. Wie also erklären?

Vielleicht mit einem atemberaubenden Gedicht, das recht subversiv die bekannten Götter jener Tage in einen größeren Zusammenhang einspinnt und die Welt nicht als Ergebnis von göttlichem Krieg und Gemetzel, sondern als Ausdruck von göttlicher Kreativität und Liebe erscheinen lässt.

Warum ist das so wichtig?

Weil – vor allem in den USA, aber sicher auch hier – das (griechische) Denken vorherrscht, alles als Bericht aufzufassen. Als wäre die Bibel eine wissenschaftliche Abhandlung. Ein Polizeiprotokoll. Als würden die 7 biblischen Tage tatsächlich siebenmal 24 Stunden entsprechen, wie wir sie heute kennen. Den Schöpfungsbericht so zu interpretieren, bedeutet, der Bibel viel von ihrer Kraft und Eloquenz zu nehmen. Und ich glaube, aus diesem Grund sind so viele Leute von der Bibel genervt – weil sie immer wieder zu hören bekommen, das müsste man „nehmen, wie es da steht„. Wenn wir die Erzählungen der Bibel in Kategorien zwingen, in die sie nicht hineingehören, dann werden die Texte unverständlich, wenn nicht sogar dämlich und antiquiert (Hat sich schon mal jemand die Frage gestellt, wieso es von Anfang an „Tage“ gab (also 24 Stunden (also von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang), bevor die Sonne schließlich erschaffen wurde am.. Moment… 4. Tag?))

Nebenbei bemerkt: Die Sonne (und der Sonnengott Utu) wurde in der mesopotanischen Kultur verehrt, weil sie (er) offensichtlich eine Quelle allen Lebens war. Wenn im Schöpfungsbericht nun erwähnt wird, die Sonne wurde am vierten Tag erschaffen, dann wird das auf die damaligen Zuhörer wie ein Donnerschlag gewirkt haben. Was? Moment! Was? Der Gott in diesem Gedicht hat die Sonne gemacht? Wow!

Dazu kommt, dass Schöpfungsberichte zu jener Zeit durchaus populär waren – man denke nur an den Gilgamesch-Epos. Alle diese Erzählungen hatten eine ähnliche Grundstruktur: Die Götter waren im Krieg und aus der Schlacht und der Zerstörung, die sie hinterließen, entstand der Mensch.

Und dann kommt dieses hebräische Gedicht und behauptet, wir seien nicht hier auf Grund von Chaos und Leid, sondern weil ein wohlmeinender, kreativer Gott die Welt aus einem Überfluss an Freude und Liebe erschaffen hat.

Um es vorsichtig auszudrücken: Das war eine recht neue Idee. Revolutionär.

Dieses Gedicht warf die provokante Frage in den Raum: „Sind wir zufällig hier, weil die Götter miteinander Zickenkrieg haben – oder gibt es eine alternative, großartigere Möglichkeit? Was ist die treibende Kraft hinter allem Sein? (Und wenn wir ehrlich sind: Das ist bis heute eine relevante Frage geblieben, oder nicht?)

Wie tief sich unser (griechisch geprägtes) analytisches Denken von dem der Israeliten damals bis in die heutige Zeit unterscheidet, macht vielleicht eine Anekdote deutlich, die Rob Bell erzählt. Ein Freund von ihm sei vor einigen Jahren in Jerusalem gewesen und sprach einen Rabbi darauf an, dass viele Christen in den USA sich darüber den Kopf zerbrächen, ob die Welt tatsächlich in sechs 24-h-Tagen erschaffen worden sei. Der Rabbi – ein Mann, der das Buch Genesis wie auch die gesamte hebräische Bibel Vers für Vers auswendig (!) gelernt hat, schwieg einen Moment, bevor er antwortete: „Ich habe das noch nie so betrachtet.“

Nächstes Mal: Wie kam sie zu uns?

Ein Gedanke zu „#10: Die Macht eines Gedichts“

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