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Inklusion und Inklusionskinder

“Darf Henri aufs Gymnasium?” titelt der SPIEGEL an dieser Stelle.
Die Eltern eines Jungen mit Down-Syndrom möchten ihren Jungen am Gymnasium anmelden, damit er in seinem gewohnten, sozialen Umfeld (=Freundeskreis) bleibt. Sie wissen, dass Henri nicht zielgleich unterrichtet werden kann, aber er “könnte die Klasse bereichern”. Eine Petition wurde von 20.000 Menschen unterzeichnet.
Das Gymnasium sperrt sich dagegen. Lehrer (und andere Eltern) fürchten, dass ein geistig behindertes Kind den Unterricht aufhält und in dem “intellektuellen Hochleistungsbetrieb” untergeht. Die betreffende Schule hat bisher eine Menge körperbehinderter Kinder zum Abitur gebracht, diese wurden allerdings allesamt zielgleich unterrichtet.

Zum Glück darf ich in einem meinem Blog schreiben, was ich will und muss mich vor niemandem rechtfertigen.

Punkt 1: Ich bin für die Inklusion.
Das Aussondern von behinderten Kindern, von Ausländerkindern, von Kindern mit emotionalem Förderbedarf oder sonstigen “Abweichungen” kann ich mit meinem (christlichen) Menschenbild nicht vereinbaren. Aber…

Punkt 2: Die Umsetzung der Inklusion ist deutlich schwieriger, als man sich das auf dem Papier so vorstellt und nicht jedes Kind ist an einer “normalen1” Schule am richtigen Ort.

Bezogen auf das obige Beispiel teile ich die Haltung des Gymnasiums. Der Grund liegt für mich in der Argumentation der Eltern – der “Freundeskreis solle erhalten” bleiben.
Bei vielen schwer körperbehinderten Kindern (die jedoch zielgleich unterrichtet werden) kann man im Alter von 12-14 eine starke Entwicklungsverzögerung im Emotionalen/Sozialen beobachten. Während sie intellektuell mit der Klasse mithalten können, funktioniert das beim Interagieren untereinander nicht mehr. Die Gründe dafür sind offensichtlich: je größer der Grad einer Behinderung, desto mehr Betreuung und Aufsicht braucht ein Kind. Und während die Mitschüler am Wochenende Pyjamapartys veranstalten, heimlich FSK-18-Egoshooter spielen, Pornos gucken und auch ansonsten viele Grenzen austesten – bleiben sie dauerbeaufsichtigt, verpassen womöglich durch Krankenhausbesuche viel Schulzeit. Die Kinder entwickeln sich in den Klassen 6-8 sehr schnell, sehr weit auseinander.

Bei meiner Tochter (die in einer jahrgangsstufenübergreifenden Klasse unterrichtet wird) sehe ich, dass es in der Grundschule wenig Probleme gibt, wenn Zweitklässler mit Viertklässlern spielen. Die Unterschiede werden nicht als störend wahrgenommen.
In einer weiterführenden Schule spielt kein Siebtklässler mehr mit Fünftklässlern. Es ist ganz wichtig, dass man sich vor Augen führt, dass – auf emotionaler Entwicklung – genau das vorherrscht: Viele Kinder sind emotional/sozial in Klasse 7 oder 8, ein schwer behindertes Kind jedoch womöglich erst in Klasse 4 oder 5 – auch wenn es intellektuell vielleicht im Unterricht mithalten kann.

Eltern müssen sich also zuweilen entscheiden, ob sie ihr Kind an einer Regelschule anmelden, wo es inhaltlich und fachlich am richtigen Ort ist – aber keine gleichgesinnten Freunde findet. Oder ob sie es an einer Sonderschule anmelden, an der das Kind eher unterfordert wird, aber eine Peergroup findet: Mitschüler mit den gleichen Problemen und Sorgen und Ängsten und einem ähnlichen Entwicklungsstand.

Deutlich entspannter wird das wieder in den höheren Jahrgangsstufen: Zwischen einem Neuntklässler und einem Zehntklässler bemerkt man keinen Unterschied. Hier führen die verschiedenen Entwicklungsstränge wieder zusammen – aber die Jahre dazwischen können richtig ätzend werden.

So sehr ich die Eltern von Henri verstehen kann – in meinen Augen tun sie ihrem Sohn keinen Gefallen. Es mag besser sein, abrupt in eine neue Umgebung geworfen zu werden, die auf ihn abgestimmt ist und mit neuen Freunden, als in einem schleichenden Prozess alle Freunde zu verlieren und über Jahre stets der Schlechteste der Klasse zu sein.
Um zieldifferent unterrichtet zu werden (und das wäre ja eine Alternative) braucht es aber viele Kinder, die einen anderen Schulabschluss anstreben. Was macht das mit der Seele eines Kindes, wenn es über Jahre hinweg als Einziger in der Klasse mit dem Zahlenraum bis 20 kämpft, während die anderen den Satz des Pythagoras erarbeiten?

1 Ich weigere mich, eine politisch und juristisch korrekte Schriftsprache zu benutzen, um Fettnäpfchen zu vermeiden. Ich möchte gelesen und verstanden werden und keine formal korrekten Artikel verfassen, in denen ich über “Kinder mit körperlichen Einschränkungen, die an weiterführende Schulen gehen, die nicht auf…”
Wir verstehen uns.

20 Gedanken zu „Inklusion und Inklusionskinder“

  1. Dan sollten auch alle Realschulkinder und Hauptschulkinder ans Gymnasium angemeldet werden dürfen (wenn Ihre Freunde dahin gehen). Ach, machen wir aus allen Schulen Gesamtschulen……

    1. das is der punkt, den ich nicht verstehe – soweit ich das sehe, haben wir unterschiedliche Schulen für unterschiedliche Bedürfnisse.
      Die Schneidung der Schulen ist sicher diskussionswürdig – aber Fakt ist doch nun mal, dass Menschen unterschiedlich sind und unterschiedliche Bedürfnisse haben.

      Ich verstehe beim besten Willen nicht, welchen Mehrwert es hat, wenn der Junge auf ein Gymnasium kommt – oder geht es nur darum, „denen da oben“ mal zu zeigen, wo der Hammer hängt?

        1. deswegen meine ich ja auch: „Die Schneidung der Schulen ist sicher diskussionswürdig“

          ich denke schon, dass noch viel getan werden kann und sollte. aber ich denke, in diesem speziellen fall schadet es mehr als es nützt …

  2. Danke für Ihre Worte.
    Vielleicht liegt das Problem der Eltern auch daran, dass bei Trisomie 21 so viele verschiedene Ausprägungen möglich sind. In der Fachsprache heisst es glaube ich so etwa wie Mosaik-Form. Ich habe schon einen Jugendlichen erlebt, der mit einem Musikschulorchester als Solist ein Violinkonzert von Bach gespielt hat. Und in der Art gibt es viele Geschichten. Aber (!!!!!) diese Kinder sind alle sehr individuell gefördert worden. Und das ist der Punkt mit dem ich das größte Problem habe: Ich empfinde es so, dass Henris Menschenrecht nach angepasster Förderung ihm aufgrund des Geltungsdrangs seiner Eltern verwehrt wird.

    Und ich bin sehr froh, dass meine intellektuell etwas schwächere Tochter eine Realschule besuchen darf und nicht ins Gymnasium muss, wo sie jeden Tag frustriert und demotiviert werden würde.

    Eigentlich finde ich, das manche Kinder vor ihren Eltern durch eine staatliche Behörde beschützt werden müssten. Nicht nur bei körperlichem Schaden, sondern auch bei seelischem Schaden.

    Gruss
    Cordula
    P.S:
    http://www.change.org/de/Petitionen/herr-stoch-henri-sollte-f%C3%BCr-sein-und-das-wohl-aller-nicht-auf-das-gymnasium-gehen

  3. Danke! Für ein so wichtiges Thema hast du die richtigen Worte. Die Kluft zwischen dem menschlichen/pädagogischen und gesellschaftlichen Anspruch (Selektion für Leistungsträger), die auch noch von den Verantwortlichen weit gehend geleugnet wird, führt mich leider oft an meine -auch sprachlichen- Grenzen.

  4. Danke! Endlich spricht es mal jemand aus. Wenn schon Kinder mit Geistiger Behinderung ein Gymnasium besuchen dürfen, was ist denn dann mit den Nicht -Behinderten Haupt -und Realschülern, starten wir dafür dann demnächst auch eine Petition? Und einen Gefallen tut man Henry damit ganz sicher nicht, er wird sich in dem System,aus Gründen die du alle bereits genannt hast, nicht wohlfühlen und schon gar nicht seinen Bedürfnissen entsprechend weiter entwickeln können. Mir erschließt sich nicht, wie man überhaupt auf eine solche Idee kommen kann, geschweige denn, wie man dafür 20000 Unterschriften bekommt…

  5. Ich finde es erschütternd, wie hier in den Kommentaren die Eltern ver- und beurteilt werden, obwohl wir alle sicherlich nicht mehr als das wissen, was die Medien uns in dem Fall geschildert haben.

    Die Eltern würden ihren Sohn als Hammer nutzen, um denen da oben mal auf den Kopf zu hauen, oder als Rettungsboot, damit keine neuen Freunde gesucht werden müssen.

    Trisomie 21 bedeutet nicht automatisch, dass sich das Kind kognitiv und emotional stark von Kindern ohne der Störung entwickeln wird. Vielleicht könnte er ja einer derjenigen Betroffenen sein, die sogar ein Studium erfolgreich abschließen. Inklusion sollte, wie jede pädagogische Entscheidung, eine Einzelfallentscheidung sein und hat wenig in der öffentlichen Debatte zu suchen.

  6. Frau Henner frauhenner.blogspot.com

    Aus eigener Erfahrung kann ich Folgendes dazu beisteuern: ich besuchte eine damals so genannte integrative Schule, was so viel hieß wie normales Gymnasium mit körperbehinderten Mitschülern und einer Rettungsrutsche für die Rollis, wie wir unsere Freunde damals nannten (wahrscheinlich auch nicht mehr politisch korrekt). Damals hatten wir im Freundeskreis eine Rollstuhlfahrerin, die mein Leben nachhaltig beeindruckt hat. Wir haben viel zusammen unternommen. Die Freundschaft war von gegenseitigen Interesse geprägt, die Behinderung war absolut nebensächlich. Wir hatten jedoch auch Mitschüler, die so schwer erkrankt waren, dass sie sehr viel Betreuung brauchten, also oft nicht anwesend waren und auch am Nachmittag nicht mitkonnten. Zu ihnen ließ sich viel schwieriger ein Kontakt aufbauen. Und das, obwohl sie geistig bei uns an der Schule alle Gymnasiasten waren. Daher kann ich deine Argumentation gut nachvollziehen. Verweisen möchte ich auf den Film „Inklusion“, den ich vor ein paar Wochen auf meinem Blog rezensiert habe.

  7. Wir hatten an unserer Schule vor Jahren ein Kind, das im Rollstuhl saß, es konnte nur noch eine Hand – und die auch nur eingeschränkt – nutzen. Für dieses Kind gab es einen Beisitzer. Am Anfang war es ein Ziwi, später ein Fachlehrer … und DAS wollte das Schulamt nicht mehr bezahlen.
    Die Mutter hatte gekämpft, da in der Förderschule kein Englisch unterrichtet wurde. Sie sah für ihr Kind aber nur eine Zukunft in der Computerbranche. Mittlerweile hat das Kind die 10. Klasse, mit Englisch 🙂 abgeschlossen.

    Körperbehinderung ist an einer behindertengerechten Schule heutzutage kein Problem, denke ich.

  8. … ich wollte eigentlich noch mehr schreiben, aber ich schreibe mich da in Rage …

    Geistige Einschränkungen, Verhaltensauffälligkeiten … darauf sind wir nicht vorbereitet.
    Es gibt körperliche Übergriffe gegenüber Lehrern und Mitschülern … die Polizei und der Rettungswagen werden gerufen … das Kind ist als Integrationskind an einer „normalen“ Schule beschult … die Betreuer wechseln ständig, weil keiner mit dem Kind klarkommt, die Mitschüler leiden unter den ständigen Störungen, kein Lehrer geht gern in die Klasse …
    Im Moment ist das Kind zu Hause … Schulgesetz ausgehebelt …

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