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imageDienstag erschien ein Artikel von mir bei SPIEGEL Online unter der (etwas reißerischen) Überschrift “Ich fühle mich oft alleingelassen”.
Darin beschreibe ich die Herausforderung, eine Klassenfahrt für eine Inklusionsklasse zu gestalten, wenn ich allen Schülern gerecht werden möchte (an welcher Aktionen können alle Kinder teilnehmen? Wer bezahlt Extrakosten?).
Die Reaktionen fallen moderat aus, gehen aber oft in die gleiche Richtung: Im zugehörigen Forum (“Ein bisschen Phantasie wird der Lehrer ja wohl haben”) wird hier und da die Frage aufgeworfen, wo denn genau mein Problem sei und via Facebook wurde ich mehrfach angefragt, ob ich tatsächlich so hilflos und an meiner Schule völlig alleingelassen sei.

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Mit einem Wort:

Nein.

Ich fühle mich ganz wunderprächtig und habe ein klares Ziel vor Augen. Ich erfahre alle Unterstützung von meiner Schule und meinen Kollegen. Es geht aber

nicht

        um

                mich.

Der Kollege aus dem Blog kreidefressen beschäftigt sich aktuell ebenso mit dem Thema Inklusion wie ich. Im Unterschied zu mir, muss er an seinem Gymnasium allerdings die Umsetzung des G8 zukünftig mit emotional-sozial förderbedürftigen Schülern verknüpfen. Zitat:

„Das Sitzen am Tisch müssen Sie mit den Kindern zum Teil erst einüben. Dafür wird einiges an Zeit draufgehen.“

Gestern erhielt ich eine vorsichtige (!) Anfrage der ARD, ob ich nicht am kommenden Sonntag mit Günther Jauch in seiner Sendung zum Thema Inklusion diskutieren wolle.

Ich fühle mich sehr geehrt.

…und sehe Probleme auf mich zukommen: Wie soll ich in der Kürze eines Interviews so antworten, dass ich niemandem auf den Schlips trete, gleichzeitig aber mehr als nur leere Phrasen von mir gebe…?!
Ein paar Beispiele.

“Fühlen Sie sich [mit dem Thema Inklusion] alleingelassen?”
Nein. Ich persönlich nicht. Die Schule gibt mir jede Unterstützung, die nur denkbar ist. Die eingesetzte Förderschullehrerin berät mich bei Formalia, Rechts- und Entwicklungsfragen. Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist vorbildlich. Die Stadt Siegen baut einen Fahrstuhl, um unsere Schule ein Stück weit barrierefrei zu gestalten. Der Laden läuft.
Aber…
Wir müssen uns lösen von der Vorstellung, überall gäbe es heile Dorfschulen und die größte Herausforderung ist eine Türschwelle, bei der ein Rollstuhlfahrer womöglich einen kleinen Hopser nimmt. Es geht nicht wirklich um die Frage, ob Henri aufs Gymnasium darf. (Ich schreibe das, weil ein Leser, der bis hierher gelesen hat1, tendenziell eher gebildeter sein wird und ebenso tendenziell eher Erfahrungen mit dem Gymnasium als der Hauptschule gesammelt hat: Deutschlands Schulen sind nicht nur Bildungsanstalten.)
Sowohl Schulen als auch das Thema Inklusion sind so breit gefächert, dass kein einzelner Lehrer stellvertretend für alle anderen sprechen kann. Inklusion bedeutet auch, Kinder zu inkludieren, die aufgrund emotionaler Störungen bspw. ihre Mitschüler verprügeln. Oder Schüler, die sich unter dem Tisch entblößen, um die Lehrerin zu schockieren.
Und – ja, ich kenne eine Reihe von Kollegen (vornehmlich an Hauptschulen), die – ja! – alleine dastehen. Deren Aufgabe inzwischen mehrheitlich darin besteht, die Kinder zu betreuen. Smaland. “Wenn sich keiner verletzt, war es ein guter Tag.” An Unterricht ist nicht mehr zu denken. Ein großer Teil der Lehrer ist alleingelassen.

“Was kann man tun, um das Problem […] zu lösen?”
Ich bin kein Freund von großem Gejammer.
Lehrer sind Handwerker. Wir arbeiten mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Egal ob die Schule einen Computerraum hat, Inklusionshelfer, Förderkinder, große Klassen oder defekte Klimaanlagen – wir arbeiten mit dem, was wir vorfinden.
So lange wir keinen Fahrstuhl im Gebäude haben, müssen die Mitschüler eben den Rollstuhl das Treppenhaus hochtragen. Wenn es keine angepassten Arbeitstische im Physikraum gibt, wird eben improvisiert.
Lehrer sind Handwerker.
Die Frage ist, ob es besser geht.
Meine Förderschulkollegin macht eine tolle Arbeit. Aber in der achten Klasse in Chemie helfen? In der neunten Klasse Mathematik unterstützen? In der zehnten Klasse physikalische Sachverhalten erklären? Keine Chance. Wir brauchen mehr Fachlehrer mit sonderpädagogischer Ausbildung.
Oder: Wie sollen Kinder im Rollstuhl am Chemieunterricht aktiv teilnehmen, wenn Tische und Anschlüsse an Strom, Gas und Wasser in unerreichbarer Höhe liegen? Wie erkläre ich dem zappeligen Jonathan, dass er für sein krummes Häuschen nur eine “4” bekommt, während ein Kind mit einer Behinderung im Rahmen seiner Möglichkeiten womöglich nur ein Brett zurechtsägt und dann eine “2” erhält?

All das kostet Geld. Viel Geld.
Und ohne dieses Geld werden wir weiter improvisieren wo es geht – aber viele Kinder und viele Kollegen werden darüber kaputt gehen.

imageSolche Antworten sind laaaaang und ausführlich und wenig sexy. Besser ist ein jammernder Lehrer mit spektakulären Statements (“Ohne mein Schnäpsken abends würde ich gar nicht mehr durchhalten!”).

Günther Jauch2 sagt bestimmt ab – aber wenn nicht:

Bitte nehmt mir meine kurzgefassten Aussagen nicht übel. Ich weiß, dass sie nicht allen Lehrerinnen und Lehrern und solchen Kollegen, die sich noch nicht für ein Geschlecht entschieden haben oder dies bewusst verweigern und allen Real-, Haupt-, Gesamt-, Spezial-, Förder-, Sekundar-, Waldorf-, Privat- und/oder Montessorischulen gerecht werden. Ich ahne, dass ich womöglich fiktive Namen benutze und entschuldige mich im Voraus bei allen Florian-Haukes und Khaleesis.

1: Und wer bis hierher gelesen hat, den grüße ich Sonntagabend, 21:45 aus der ARD.
2: Ob er sich erinnert, dass ich mal nicht-drangekommener-Telefonjoker in einer Sendung vor drei Jahren war? 😀
3: Ich bin jetzt schon so nervös, dass ich seit 3 Uhr auf den Beinen bin und zur Beruhigung lieber diesen Artikel schreibe, als mich im Bett zu wälzen. Bloggen hat eine therapeutische Funktion!

19 Gedanken zu „“Inklusion” in den Medien“

  1. Ich drücke einfach mal die Daumen und supporte vor dem heimischen Bildschirm, egal ob Ihnen mal eine Aussage nicht so rund gelingt. Sie sind kein Medienprofi, aber authentisch. Und das ist mir lieber als der x-te Vertreter von der y-ten Lehrergewerkschaft.

    Herzliche Grüße
    Coreli

  2. Hallo Jan,
    ich arbeite an einer Schule zur Lernförderung und habe ebenfalls Kinder mit sozial-emotionalen Störungen in der Klasse. Letztes Jahr war es ein Junge (1. Klasse), der teilweise so gestört hat, dass überhaupt kein Unterricht möglich war und ich nur damit beschäftigt war, die anderen Kinder zu schützen. Ohne jeglichen Grund ist er im Unterricht zu anderen Kindern gegangen, hat sie geschlagen, auf den Kopf geboxt, Dinge weggenommen, hat auch mich getreten, bespuckt, geboxt, ist einfach abgehauen,…. Ein anderes Kind hat sich auf dem Flur ausgezogen und jedem sein HInterteil gezeigt, hat ein Häufchen in die Ecke gesetzt usw. Und an unserer Schule sind noch mehr Kinder, die wirklich krank sind und das Unterrichten teilweise nicht möglich machen. Diese Kinder in einer Regelschulklasse zu integrieren geht wirklich nur mit einer 1:1 Betreuung, dafür fehlt leider (zumindest hier) das Geld. Selbst Lernförderkinder zu integrieren kann ich mir wirklich nicht in einer Klasse mit 25 Kindern und einem Lehrer vorstellen (zumindest nicht, ohne dass der Lehrer nach zwei Wochen im burnout ist). Ich habe ja die „kleinen“, die so unselbstständig sind, sich auch keine Aufgaben selbst erlesen können und eigentlich ständig Zuwendung brauchen. Man müsste die Klassengröße stark senken und immer in Doppelbesetzung in der Klasse sein. Dann kann ich mir vorstellen, dass es erfolgsversprechend ist. Aber unter den gegebenen Bedingungen? Schwierig…

    1. hallo Christin,
      du hast natürlich recht mit Doppelbesetzung und kleineren Klassen. Meine Erfahrung ist aber auch, dass unsere „Förderkinder“ sich in einer gemischten Gruppe weniger schlimm verhalten. Eine größere, gemischte Gruppe wirkt auf viele stabilisierend. Es ist auch viel leichter, vor wenigen Sonderschülern den Clown zu spielen als vor einer größeren Gruppe mit Schülern, die einem auch mal Grenzen setzen. Um es einem einem Beispiel zu verdeutlichen: ich kenne eine stark übergewichtige, behinderte Schülerin, die kaum die Treppe rauf kommt, wenn sie mit ihrer Klasse – alle beeinträchtigt – unterwegs ist. Kürzlich war dieses Mädchen mit einer gemischten Gruppe im Haus unterwegs, sie war überglüchlich, dass sie an dieser Aktion teilnehmen durfte und nahm die Treppe ruck zuck ohne irgendwelche Probleme. Es geht an den vielen Sonderschulen auch um Kreisläufe von Helfen und Abhängig sein. In diesen Kreisläufen wollen die einen immer mehr helfen und die anderen werden immer hilfloser! Abgänger von Förderschulen sind oft ziemlich bequem und unselbständig wenn sie vor neuen Aufgaben stehen. Es wird schon jemand kommen und ihnen alles in kleine Häppchen schneiden- so wie in den vergangenen jahren. Viele Grüße

  3. Frau Henner frauhenner.blogspot.com

    Eine gute Sendung und starke Nerven! Du sprichst für uns Lehrer, die an sich ja schon tausend Meinungen haben, und hast ja durch deine Erfahrung an deiner Schule, aber eben auch durch den Blog die vielfältigsten Eindrücke. Wir stehen hinter dir – bzw. wir gucken dir alle zu. Aber lass dich dadurch nicht nervös machen 😉
    Wer wird denn noch dabei sein?

    1. Frau Henner frauhenner.blogspot.com

      Gerade hab ich mal bisschen bei kreidefressen gelesen und bin recht geschockt, WIE allein gelassen manche Schulen werden! Natürlich gibt es die Vorzeigeprojekte, aber wenn es so läuft wie dort, ist niemandem geholfen. Auch den zu inkludierenden Kindern nicht.

  4. Hallo Jan,
    ich fühle mich mit Inkusion überfordert und alleingelassen. GU klappt an unserer Schule nicht gut. Wir sind eine auslaufende Hauptschule und in meiner 6. Klasse haben 6 von 12 Schülern besonderen Förderbedarf bzw. GU, fast alle aus „emotionalen“ Gründen. Das sind nicht die Kinder, die man vor Augen hat, wenn man das Wort Inklusion hört, keine Rollstuhlfahrer oder süße Lernbehinderte. Das sind kleine Asis!
    Bitte entschuldige meine unpädagogische Wortwahl.
    Die Unterstützung, die ich durch meine Förderschulkollegen erhalte, reicht nicht aus. Ich bräuchte durchgehend Doppelbesetzung. Unsere Schule hat kein Trainingsraum- oder anderes Konzept. Das etwas in die Jahre gekommene Kollegium hat kaum Verständnis für meine Schüler und deren Unvermögen…
    Doch, ich fühle mich alleingelassen.

    Liebe Grüße aus Aachen

  5. Was mich beim Thema „Inklusion“ zur Zeit beschäftigt, ist die Frage, wer redet eig. mit den „anderen“:

    Hintergrund war eine der Petitionen über Henri, wo dann auch eine Elternpaar sich zur Wort meldetet, dass auch Kinder in Henris Klasse hatte und diese Eltern fühlten sich nämlich auch – alleingelassen.

    Somit ist für mich die Frage an alle hier, die schon mehr erlebt haben (für mich selbst ist Inklusion ja erstmal ein Thema, dass auf uns zukommt, wenn Kindergarten und Schule näherrücken).
    Werden auch die Eltern der „anderen“ Kinder mitgenommen? Oder kriegen die das meiste zur Kenntnisnahme?

    Oder ist allein der Wunsch, der anderen Eltern, auch mitreden zu wollen, völliger Blödsinn?

  6. Woah, Glückwunsch erstmal!

    Ich drücke jedenfalls die Daumen (werde es mir allerdings erst später in der Mediathek ansehen; die Ausstrahlung ist leider etwas spät für mich).

    Ich bin sehr gespannt und sicher, dass Du das sehr gut meistern wirst. 🙂

  7. Ich bewundere deinen Mut und wünsche dir ein dickes Fell – leider reden bei diesem Thema viele selbst ernannte Experten, die keine Ahnung von den individuellen Problemen vor Ort haben.

  8. Danke für den Link und ich drücke dir ganz feste die Daumen für Sonntag!

    (Und dass nur verordnet und nicht geredet wird, ist doch mittlerweile der einzige Schulstandard, den wir wirklich länderübergreifend haben…)

  9. lieber Jan-Martin,
    du sprichst weiter oben von der Notwendigkeit, dass wir Fachlehrer bräuchten, die gleichzeitig Sonderpädagogen sind. Dazu nur so viel: in den höheren Klassen geht es doch darum, dass die Jugendlichen selbst wissen, wo sie etwas finden und wie sie lernen. Ich bin Sonderpädagoge und helfe zur zeit Bäckern, Verkäuferinnen und einem Fleischer bei seiner Ausbildung, obwohl ich wenig Ahnung habe vom Backhandwerk oder mich als Vegetarier auch nicht sonderlich mit dem Fleischerhandwerk auskenne. Aber ich kann gerade als Nichtwissender die richtigen Fragen mit dem Jugendlichen stellen und ich kann ihm zeigen, wie er an unbekannte TExte rangehen muss. Ein Sonderpädagoge hilft nicht dadurch, dass er das gleiche Fachwissen hat sondern dadurch, dass er mehr Erfahrungen hat mit Lernblockaden allgemein und dadurch dass er den Blick auf den Einzelnen gerichtet hat und nicht auf den Notendurchschnitt einer Gruppe. Letztendlich geht es um den Sonderpädagogischen Blick. Der Regelschullehrer sagt fluchend im Lehrerzimmer, wenn er nicht mehr weiter kommt: „Der gehört doch nicht hierher“ Der Sonderpädagoge fragt dagegen: „Was können wir dem jungen Menschen hier anbieten, damit er weiterkommt?“ All die Pädagogen die sagen: „die Schule scheitert an den Kindern“ und nicht sagen: „die Kinder scheitern an der Schule“, das sind für mich alles Sonderpädagogen- egal, was sie studiert haben.

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