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#15: Annahmen und AA-Treffen

P1010031Einer meiner Lehrer erzählte mir mal, es gäbe drei Stufen der Mathematik: In der ersten Stufe würde man mit Zahlen rechnen; in der zweiten Stufe mit Buchstaben (x²+y²=z²) aber die eigentliche Mathematik sei in der dritten Stufe zu finden – dort würde man nur noch mit mathematischen Konstrukten und Gebilden um sich werfen.

Wenn man sich einen solches mathematisches Konstrukt ansieht, dann muss es bspw. über ganz bestimmte Elemente verfügen, damit es ein mathematischer „Körper“ ist.

Kluge Physiker haben irgendwann einmal verwundert bemerkt, dass sich die Bausteine der Atome in ganz bestimmte Strukturen einfügen – und diese Strukturen entsprechen haargenau solchen mathematischen Körpern. Und da man bei einem mathematischen Körper wusste, welche Elemente es alles gibt – folgerte man daraus, dass auch noch ein paar subatomare Bausteine an dieser oder jener Stelle zu finden sein müssten.

Nach dem Higgs-Boson, welches als Gottesteilchen zu zweifelhaftem Ruhm gelangte, wurde also nicht einfach so gesucht – sondern anhand mathematischer Konstrukte ahnte man, dass es an einer bestimmten Stelle zu finden sei.

Verblüffend.

Vor einigen Jahren hatten meine Frau und ich einen Kunstprofessor zu Besuch. Ich erwähnte in einem Nebensatz, wie wenig ich von Kunst verstünde und jener Professor erklärte beiläufig, welche tausend Details in einem klassischen Bild zu finden seien. Was die Farben und die Pinselführung aussagte. Welche Symbole und Andeutungen eingearbeitet seien. Es war atemberaubend. Er konnte Bilder lesen.

Ein alter Studienfreund von mir loggte sich einmal – hunderte Kilometer entfernt sitzend – in meinen Computer ein, erstellte im Hintergrund einen neuen Benutzer und das alles während wir gemütlich telefonierten und ich nebenher im Internet surfte und nichts davon wahrnahm. Ein Zauberer in meinen Augen.

Wenn ich solchen Leuten beim Denken, Reden, Arbeiten zusehe, dann komme ich ins Staunen. Wie ein Kind. Ich bin seit zehn Jahren mit einer Pastorin verheiratet – und immer wieder erhalte ich Einblicke und staune, staune, staune.

Ich schreibe das, weil ich – als Christ – in meinem Glauben mit der Bibel anfangen muss. Und die Bibel – wie wir alle wissen – ist die Urheberin zahlreicher Probleme.

Einige Menschen verachten sie – ohne wirklich zu wissen, was darin steht, andere betrachten sie als Hindernis auf dem Weg zu Entwicklung und Aufklärung und wieder andere haben seit Jahren die gleichen Verse auf den Lippen und fragen sich, warum ein jeder – inklusive sie selbst – so gelangweilt ist. Und manche tragen so viel Last und Gepäck mit sich herum, dass sie gar nicht wissen, wo sie anfangen sollen.

Mich fasziniert die Bibel sehr. Über die Jahre hat sie sich mir mehr und mehr erschlossen, habe ich mehr und mehr Zugang zu Texten gefunden weil ich mehr und mehr verstanden habe.

Wenn du also ausgebrannt oder genervt bist oder voller ätzender Erfahrungen steckst, wenn es um die Bibel geht – dann ist das heute ein Text für dich 🙂

Erstens: Wir müssen mit dem anfangen, was wir haben.

Der irische Autor Pete Rollins wies in einem seiner Bücher darauf hin, dass die Treffen der Anonymen Alkoholiker deswegen so machtvoll seien, weil man auf das Wesentliche reduziert sei.

Was meint er damit?
Bei einem AA-Treffen kann man niemandem etwas vormachen. Man kann sich nicht verstecken. Man kann sich nicht verstellen und keine Maske aufsetzen – man ist, wer man ist. Man ist machtlos und hat die Kontrolle verloren und braucht Hilfe, und jeder weiß es.
Setzt man sich hin und sagt: „Hallo, ich bin Robert und ich bin Alkoholiker – aber es ist kein echtes Problem. Nicht für mich. Ich habe schon alles Mögliche in meinem Leben erreicht und ich bin nur hier um…“ dann wissen alle, dass man noch nicht bereit ist. Man hat es noch nicht begriffen. Erst, wenn man ganz unten ist, ist man bereit, sich mit dem Schmerz und dem Verlust der Kontrolle auseinanderzusetzen und erst, wenn man auf das Wesentliche reduziert ist, hat man eine Chance, den nächsten Tag trocken zu bleiben.

Was aber hat die Reduzierung auf das Wesentliche mit der Bibel zu tun?

Die Bibel ist eine Zusammenstellung von Schriften von Menschen, die an konkreten Orten zu konkreten Zeiten lebten. Das ist das, was wir haben. Das ist es, was die Bibel vor allem anderen ist. Und hier können wir anfangen. Die Menschen, die diese Texte schrieben waren egoistisch und lustig und gierig und liebevoll und unberechenbar und großzügig und leidenschaftlich und haben wirklich gerne wirklich dumme Dinge getan.

Wie wir.

Sie haben Dinge erlebt

Sie haben Geschichten erzählt.

Sie taten ihr Bestes, um diese Geschichten zu erzählen und ihre Erlebnisse in Worte zu fassen.

Wenn wir einen Zugang zur Bibel finden wollen, dann müssen wir mit dem beginnen, was wir haben – und darum ist es wichtig zu wissen, was da vor uns liegt.

Zweitens: Je mehr Annahmen und Vorurteile wir in die Bibel mit hineinnehmen, umso weniger interessant wird sie uns erscheinen.
Eine kleine Übung: Man hat bestimmte Vorstellungen von Gott und der Bibel. Überzeugungen. Skepsis. Wut. Erfahrungen. Dinge, die uns Leute erzählt haben. Dinge, die wir gelesen haben. Ansichten über Gott die wir glauben oder nicht. Was auch immer. Nun wollen wir uns diese Gedanken als Murmeln vorstellen. Jeder Gedanke eine glänzende kleine Murmel.

Okay? Gut. Und jetzt nehmen wir alle diese Murmeln und stecken sie uns in die Hosentasche. Oder in einen Eimer. Oder den Aschenbecher im Auto. Außer Sicht.

Und jetzt die Bibel lesen.

Ohne eine einzige dieser Murmeln.

Ausprobieren.

Irgendeine Passage. Willkürlich ausgewählt.

Reinspringen und so weit wie möglich ohne jede Voreingenommenheit über Gott lesen.

Wenn man dies tut, dann hat man nichts weiter, als die gedruckten Worte auf der Seite. Geschrieben von Menschen, herausgegeben von Menschen, verändert von Menschen.

Das haben wir.

Und nun wollen wir uns genau den Fragen zuwenden, die Menschen stellen, wenn sie über die Bibel sprechen. Dabei wollen wir uns auf diejenigen fokussieren, die häufig gestellt werden, wie zum Beispiel

Warum hat Gott diesen Menschen befohlen, all die anderen Menschen umzubringen?

oder

Warum hat Gott die Menschen erschaffen, wenn er doch wußte, dass das Ding in die Hose geht?

oder

Warum musste Jesus sterben? Konnte Gott keinen anderen Weg finden?

Bekannt?

Nun, was würde unser Gegenüber erwidern, wenn wir ihn fragten, woher er all diese Vorstellungen von Gott habe, die da durch seine Fragen durchklingen. Und natürlich würde er sagen: Aus der Bibel!

Nicht wahr?

Und hier entstehen Schwierigkeiten: Jemand, der solche Fragen stellt hat bereits Vorstellungen, Gedanken und Bilder über Gott und die Bibel und er bringt diese Vorstellungen, Gedanken und Bilder in das Lesen mit hinein. Während er also die Bibel liest, vergleicht er das Gelesene ununterbrochen mit dem, was er innerlich schon entschieden hat darüber wer Gott und wie Gott ist. (Das gilt insbesondere für streng religiöse Menschen, die mit einem ganz bestimmten, festgelegten Bild von Gott aufgewachsen sind – für sie kann es sehr, sehr schwer sein, die Bibel von einem anderen Standpunkt aus kennenzulernen.)

Die Kunst oder Herausforderung (oder Einladung) ist, die Bibel zu lesen und sich seiner Murmeln, seiner Bilder und Vor-Gedanken zu entledigen. Aus diesem Grunde studieren nicht wenige Menschen vergleichende Religionswissenschaften und finden es plötzlich faszinierend, die Bibel aus einer ganz anderen Perspektive neu kennenzulernen. Vielleicht, weil ihnen lange, lange vorgekaut wurde, was da drinsteht und was es bedeutet. Kunst ist für mich eine sehr, sehr langweilige Sache und erst durch das Mittagessen mit jenem Professor habe ich gelernt, welche Welten hinter einem einzigen Bild stecken können.

Was mich zum dritten Punkt führt: Vorsicht vor Predigen, die irgendetwas aus der Bibel beweisen wollen.

Nicht nur, dass sie zuweilen langweilig und durchschaubar sind – es ist auch unklar, wer genau die Zielgruppe ist (Ich meine, da sitzen Menschen, die Sonntags aufstehen und sich nichts anderes vorstellen können, als ins Auto zu steigen und sich auf eine Kirchenbank zu setzen um jemandem zuzuhören, der über ein jahrtausendealtes Buch spricht, geschrieben von Menschen aus anderen Kontinenten, anderen Kulturen und einer völlig anderen Sprache. Die müssen wohl eher nicht überzeugt werden.)

Aber abgesehen davon ist so etwas ein tragisches Beispiel dafür, das Thema zu verfehlen.

Die Bibel ist kein neutraler Bericht, sie ist eine Aufzeichnung menschlicher Erfahrungen. Es geht nicht darum, zu beweisen, dass sie Gottes Wort ist oder inspiriert von Gott ist oder was auch immer – es geht darum, in die Geschichte einzutauchen mit der Absicht herauszufinden, was die Menschen damals bewogen haben mag, das alles aufzuschreiben.

(Wenn mich etwas inspiriert, dann ist das letzte, woran ich denke, andere davon zu überzeugen, wie inspirierend es letztlich ist – dafür bin ich viel zu gefangen.)

Wenn ich etwas beweisen wollte,
wäre ich viel zu tief im Unkraut versunken.

Aber wenn wir tief in die Menschlichkeit der Bibel eintauchen, dann werden die Dinge interessant.

Viertens: Manchmal müssen wir es lassen, wie es ist.

Es gibt viele Passagen, die immer noch mysteriös sind; Worte, für die wir keine passende Äquivalente finden; Geschichten, die Bräuche und Rituale implizieren, für die wir keinen Kontext mehr haben…

Aber wenn wir unsere Murmeln in der Tasche lassen (ja.. das klingt schräg..) und wenn wir aufmerksam und vorurteilsfrei lesen, dann entdecken wir womöglich Geschichten über Menschen, die plötzlich ein größeres, tieferes Verständnis von Gott hatten und davon, was er mit der Welt vorhat.

Unsere Fragen aber bekommen dann eine neue Richtung – weil wir realisieren, dass, je tiefer wir in die Erzählungen eintauchen, desto mehr entdecken wir, dass da etwas am Werk ist, dass sich etwas entwickelt: Neue Vorstellungen, etwas, dass uns herausfordert, etwas, dass diese Menschen damals nicht losgelassen hat.

Und womöglich öffnet das unsere Augen um zu erkennen, dass die gleiche Kraft, die gleiche Präsenz heute noch am Werk ist. An uns. An den Menschen um uns herum.

Und was immer diese Menschen seinerzeit nicht losgelassen hat – es lässt auch uns nicht los.

Was auch immer die Perspektive auf die Bibel sein mag – wir sollten sie loslassen.

Wenn wir keine Seite lesen können, ohne alles innerlich mit unseren Bildern und Vorstellungen zu vergleichen, dann wird es Zeit, diese wegzupacken.

Okay. Das im Hinterkopf, wollen wir als nächstes ein paar Plätze in der Bibel aufsuchen, die wir stehen lassen müssen, wie sie sind. Und beginnen möchte ich mit der Auferstehung.

Dank geht an Rob Bell.

9 Gedanken zu „#15: Annahmen und AA-Treffen“

  1. Lieber Jan-Martin,

    ein sehr guter und interessanter Artikel hast du hier veröffentlicht. Dich aus der Deckung getraut. Da hast du meinen ganzen Respekt.

    Spannend finde ich, wie du dich der Bibel näherst. Deine vier Punkte scheinen richtig und wichtig bei der Annäherung an die Bibel zu sein.

    Es freut mich, dass du ein Christ und Lehrer bist. Das finde ich einfach klasse.

  2. Hallo Jan,

    wenn ich mir deinen Artikel durchlese und versuche die Bibel auf diese Art zu reflektieren, kommt mir als erstes ein historischer Fiktion Roman in den Sinn (aka Ken Follett).

    Ich selbst bin Religion gegenüber eher abgeneigt und versuche mich am Menschen als eigene Präsenz zu orientieren. Mich beeindruckt Richard Dawkins, allerdings kann ich ihm in einigen Meinungen gerade durch diese Murmeln auch nicht immer zustimmen.

    Hoffentlich bleiben deine weiteren Ausführungen genauso interessant.

    Viele Grüße,
    David

  3. Im Prinzip schlägst du ein wenig vor, auf die Bibel wie auf Lyrik zuzugehen, oder?
    Wenn man neben die Bibel ältere, z.B. babylonische Mythen legt, bleibt nicht so üppig viel nach von ihren Alleinstellungsmerkmalen – zumindest in Kerndingen wie der Auferstehung – gab es in mehreren Mythologien mit sehr ähnlichen Motiven (Jüngling, Stein, Höhle) schonmal. Die Bibel hat für mich Thomas Mann mit seinem Josephsroman weitgehend entzaubert. Gleichzeitig sind geistesgeschichtlich eine ganze Menge Dinge – z.B. auch der Humanismus – für mich ohne die Bibel undenkbar. Wie bestimmte Werte trotz sorgfältiger und vorwiegend männlich-interessengeleiteter Auslese der Texte des neuen Testaments in unzähligen Konzilien überleben konnten, ist schon irgendwie paradox. Auch die Offenbarung passt ja vordergründig so gar nicht dazu.
    Die Bibel finde ich weniger spannend wegen ihres Inhalts – der ist geistesgeschichtlich ganz gut beschreibbar, sondern primär, weil sie ein Spiegelbild der Entwicklung großer Teile der westlichen Gesellschaft ist und dazu gleichzeitig immer ein Spannungsfeld aufgebaut hat.

    1. Ich glaube, dass man die Bibel besser verstehen kann, wenn man ihren historischen und kulturellen Kontext nicht außen vor lässt.
      Das es ähnliche Motive und Geschichten auch in anderen Kulturen gibt, passt (mir) wunderbar ins Bild: Da geht etwas vor sich, dass die Menschheit nach und nach entdeckt. Eine Entwicklung. Weg von der Sippe, der Familie, hin zu globalem, größerem, ethischerem Denken.

  4. Diese Entwicklung sieht man auch in der Bibel selbst, z.B. Menschenopfer => Tieropfer => Gottesopfer oder der Bruch des Erstgeborenenrechts (ganz extrem ja bei Joseph).

    Schwierig finde ich immer moralisierende Auslegungen, z.B. die in mehr evangelikalen Kreisen verbreitete „Kein Bett ohne Ring“-Regel, die letztlich auf römisches(!) Recht zurückzuführen ist. Hätte der gute Paulus seiner römischen Gemeinde etwas anderes geschrieben, wäre es in dem politischen Kontext halt Essig mit dem Fortbestand der frühen Christen gewesen.

    Wir hatten früher mal einen Rabbi in der Gemeinde zu Besuch, der auf einem Symposium „Liebe deinen nächsten wie dich selbst“ mal eben aus jüdischer Sicht geistesgeschichtlich aber sowas von demontiert hat – natürlich „durfte“ keiner der anwesenden evangelischen Theologen dagegen etwas sagen, aber die Gesichter waren schon nett.

    Und schlussendlich ist Literaturunterricht ohne mythologische Kenntnisse eben auch schwierig. So wird dieses Buch eben auch in säkularen Kreisen seine Bedeutung behalten.

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