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“FÜHLT SICH DAS STUMPF AN!?”

Immer wieder kämpfen wir in der Schule mit unseren (und anderer Leute) eingeschränkten Wahrnehmungen. Die Kollegen der Pausenaufsicht kennen meine Klasse beispielsweise nur als chaotischen Haufen, der in erster Linie tobt und stört. Die Nebenfachlehrer haben ein anderes Bild der Kinder als die Klassenlehrer. Die Inklusionshelfer kennen die Kinder anders, als die Eltern.

Meine Co-Klassenlehrerin hat das einmal ganz treffend beschrieben:

Während die Lisa sich zu Hause beschwert, dass der Felix heute in der Pause wild getobt und dabei zwei Stühle umgeworfen hat, erzählt der Felix seiner Mama ganz stolz, dass er sich den ganzen Tag zusammengerissen habe und nur ein einziges Mal wild getobt hat.

Beide Kinder haben recht.

Diese Wahrnehmungsdifferenzen sind der Auslöser für viele anstrengende Gespräche: Die Pausenaufsicht ist zurecht genervt vom Geschreie und Gerenne in den Gängen, erst recht, wenn dabei Bilderrahmen auf den Boden fallen und Stühle umgeschmissen werden. Das die Jungs und Mädchen vorher mit Hummeln im Hintern 45 Minuten stillgesessen haben, wird dabei ausgeblendet.

Wie groß der Unterschied zwischen eigener und fremder Wahrnehmung ist, durfte ich heute am eigenen Leib erfahren:

IMAG1046Als ich die Jungs zur Pause aus dem Klassenraum schicke, hat Jonathan plötzlich einen abgebrochenen Besenstiel in der Hand. Gestenreich und zur Freude der Mitschüler spielt er einen gefährlichen Ninja.
Wortlos strecke ich die Hand aus und erhalte den Spieß. “Wir haben den gefunden, Herr Klinge!”, verteidigen sie sich. “Wir haben nichts zerstört!”

Ich bin wirklich genervt.

“Haben wir nicht gerade erst über wildes Toben und Verletzungen und ‘Kollegen auf den Senkel gehen’ gesprochen?”

Jetzt sind die Jungs – alle Jungs – wirklich erstaunt. “Aber…”, stottern sie und sind aufrichtig verwirrt, “wir haben den Stock doch stumpf gemacht!!”
”Ja”
, bestätigen zwei andere eifrig, “Sie hätten den gestern mal sehen sollen! Da war der richtig spitz!”

Wortlos drehe ich den Besenstiel und pieckse den Jungs damit in den Bauch. “Fühlt sich das stumpf an? FÜHLT SICH DAS STUMPF AN?”

Verlegen grinsend verschwinden sie.

Und zu Hause? Zu Hause wird Lisa erzählen, wie die Jungs mit Stöcken gekämpft und sich gegenseitig die Augen ausgestochen haben. Und Felix wird berichten, wie er – aus Rücksicht auf die anderen  – extra die schärfsten Splitter sorgfältig abgeschmirgelt hat, damit sich keiner verletzt.

Klasse 8. Gerade treiben sie mich in den Wahnsinn.

9 Gedanken zu „“FÜHLT SICH DAS STUMPF AN!?”“

  1. Also, ich arbeite ja ein paar Stufen drunter in der Kita – aber insgesamt hört sich die Klasse anstrengend, aber extrem sympathisch an. 🙂
    Ganz ehrlich, eine ganze Klasse ruhiger, angepasster Kinder, die sich immer melden und nie stören und immer die Hausaufgaben haben …. machet irgendwann nur bedingt Spass 😉

  2. hej, bis gerade eben hatte ich die Hoffnung, dass bei meiner Rabaukenklasse (7 – 26 J, 5 M) im Laufe des Jahres die Hoffnung besteht, dass es sich etwas beruhigt…

  3. Solange nicht Beobachter erzählen, dass der Herr Klinge erst total geschimpft und dann den Jungs mit einem extra abgebrochenen Besenstiel voll in den Bauch gestochen hat, bis diese geflüchtet sind … 🙂

  4. Sei froh, dass ich da nicht Deutsch unterrichte. Hättest mich erwischt, wie ich das Lineal und das Geodreieck für die Tafel von der Wand geholt hätte, um den OberNinja zu machen….man muss sich ja verteidigen ;).

  5. Pingback: Wertschätzung – halbtagsblog

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