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Ein Kriminalfall. London #3

Die vergangenen Stunden waren spannend. In Calais ist uns die Flüchtlingsproblematik schlagartig bewusst geworden: Links und rechts der Autobahn tauchten Gesichter im Dunkeln auf. Auf der Zufahrt zum Hafen waren immer wieder aus umgehackten Bäumen provisorische Straßensperren errichtet worden, um LKWs und Busse zum Anhalten zu zwingen. In Calais dann ewig lange, hohe Zäune. Kein schönes Bild für Europa und auch eines, das ich seit Jahren nicht mehr zu sehen gewohnt bin.

Im Hafen und auf der Fähre läuft zunächst alles nach Plan. Die Abläufe sind mittlerweile klar und die Grenzen von uns Lehrern abgesteckt. Unser Busfahrer ist absolut fantastisch: Er kennt die Route und Vorgehensweise an der Grenze, in London ist er ortskundig und erklärt uns Lehrern mal um mal die Abläufe. Ein großes Lob an dieser Stelle. Anderthalb Stunden verbringen wir auf dem Meer. Einige dösen im Restaurant, andere machen Fotos auf dem Oberdeck. Plötzlich meldet sich Daniel: Sein Portemonnaie sei gestohlen worden. Aber es waren nur ein paar Pfund drin – weder Ausweis, noch Krankenkarte. Hm, hm. Emil hat nicht so gute Neuigkeiten – auch sein Portemonnaie ist weg. Bei ihm war aber der Ausweis drin. Meine Co Ramona und ich atmen tief durch, sind nach einer schlaflosen Nacht aber zu müde, um uns wirklich zu ärgern. Einer unserer Schüler meldet sich zaghaft. „Ich weiß, was jetzt die nächsten Schritte sind!“, beginnt er und spult ein kurzes Referat ab, in dem er uns Schritt für Schritt erklärt, was nun zu tun sei. Im Hintergrund nickt unser Busfahrer. “Der Junge hat absolut recht. Alles schonmal erlebt.”

IMAG0202 (Small)Ach… unsere Schüler sind schon zum knuddeln. Wir werfen notgedrungen unser Programm um und planen einen Besuch bei der deutschen Botschaft mit ein – irgendwie wollen wir den Kerl ja wieder zurück zu Mama und Papa bekommen.
Jonathan kommt hinzu. Er hat den Dieb gesehen. Also, Teile von ihm. Eine dunkle Jacke habe er angehabt und eine Glatze – außerdem könnte er einen Schnurrbart getragen haben. Ein Trupp Kinder verfolgt einen Verdächtigen heimlich durch das Deck. Ramona und ich stehen apathisch daneben. Zu müde, um zu reagieren, werden wir Zeuge einer wahren Enyd Blyton-Renaissance. „Der Dieb könnte sich inzwischen aber eine Perücke angezogen haben – dann sieht er jetzt ganz anders aus“, wirft Ferdinand leise ein. „5 Freunde“, murmelt meine Co leise. „Und wenn er noch eine Ersatzjacke dabei hat, erkennen wir ihn nie mehr!“ wirft Bertram ein. „Geheimnis um…“, murmel ich zurück.

Die Verfolgungsjagd endet ergebnislos. Zwar haben sie den Dieb unauffällig umzingelt – wussten dann aber wohl nicht mehr weiter. Zumal sich Jonathan auch gar nicht so sicher war, ob das wirklich der Dieb sei, oder nur irgendein Kerl mit Jacke.

Macht auch nichts. Denn als wir um halb fünf wieder in den Bus steigen, findet Emil auf seinem Platz sein Portemonnaie. Mit Ausweis und Geld. Fall aufgeklärt, Dr. Watson.

Kaum verlassen wir die Fähre, schlafen alle Kinder wieder ein. Leises Schnarchen dringt durch den Bus. Hier und da liest einer, aber es herrscht absolute Stille. Die restliche Fahrt von Dover aus nach London verläuft entspannt. Das Wetter ist großartig, die Stimmung blendend. Jetzt kann es endlich losgehen.

Ein Gedanke zu „Ein Kriminalfall. London #3“

  1. Ich finde es schade, dass die erste Reaktion (zumindest bei meinen Schülern) immer auch ist: „Jemand hat xy geklaut/gestohlen“. Meistens wurde es nämlich nur verloren und direkt die Allgemeinheit beschuldigt. Bei jeder Klasse gibt es aufs Neue wieder Stress wegen solcher Anschuldigungen…

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