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Zeit & Alter

Ich habe einen Schallplattenspieler und eine einzige Schallplatte: Bing Crosby – Merry Christmas. Weil ich nur diese eine Platte habe, benutze ich meinen liebgewonnenen Plattenspieler auch nur zwischen Oktober und Januar – ansonsten kann er weg.
Ich weiß also ganz genau, dass ich ihn irgendwann zwischen den Jahren oder im Januar verliehen habe. Ich erinnere mich, dass ich mit Freunden im Wohnzimmer stand, lässig darüber sprach, dass ich ihn zwischen Februar und September schmerzfrei verleihen könne und ich sehe mich noch die Kabel zupfen und den Plattenspieler meinem Freund Bekannten in den Arm drücken.

Aber da endet meine Erinnerung. Aus dem Freund wird ein Bekannter wird ein verschwommenes Gesicht. Ich weiß nicht mehr, wem ich den Plattenspieler geliehen habe. Aber jener Fremde, der mir mit Tag zu Tag hinterhältiger erschien und mir offensichtlich jetzt schon, im Sommer, mein Weihnachtsfest verderben wolle, treibt mich in den Wahnsinn. Sehe ich nicht Arglist in seinen Augen aufblitzen? Habe ich nicht damals schon (zwischen den Jahren? Oder doch Januar?) ahnen können, dass er (oder sie?) es nicht gut mit mir meint?

Auf der Suche nach meinem geliebten Plattenspieler klopfe ich meine Kontakte ab. Via Whatsapp frage ich erst höflich und vorsichtig, später misstrauisch ab. Aber nicht nur haben alle selbst einen Plattenspieler (Ach ja? Zufällig seit Januar? Oder zwischen den Jahren?), es mag sich auch keiner an jenes Gespräch erinnern, dass wir doch offensichtlich im Wohnzimmer geführt hatten.

Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass… “Suchst du den hier?”, brummt mein Schwiegervater und hat meinen geliebten Plattenspieler im Arm. “Stand im Keller.”

Mehr sagt er nicht. Ist auch gar nicht nötig.

Nicht nur vergesse ich Namen und Gesichter, jetzt fantasiere ich mir schon imaginäre Partys, erfundene Gespräche und nichtexistente Gäste zusammen, die mir Geräte stehlen, die eine Tür weiter im Keller vor sich hin stauben.

Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin immer noch 7. Oder schon 70.

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