Zum Inhalt springen

Der statistische Hintergrund des EU-Vorschlags zur TÜV

Datei:Dampfkesselexplosion 1881.jpg2000 Menschen sterben auf Europas Straßen pro Jahr wegen technischer Mängel, schätzt die EU-Kommission. Deshalb sollen Autos und Motorräder jedes Jahr zum TÜV – wenn sie älter als sieben Jahre sind. Hinter solchen Vorschlägen steckt eine ganze Menge (morbide) Mathematik, und ich möchte versuchen, da einen Einblick zu geben.

 

Zu Beginn müssen wir ein paar nackte Zahlen sammeln. Das ist etwas dröge, aber notwendig:

  • 2000 Menschen sterben jedes Jahr auf Europas Straßen als Folge technischer Mängel
  • in der EU gibt es etwa 200 Millionen Autos. [Quelle]
  • Die Süddeutsche Zeitung schreibt, dass etwa die Hälfte der Fahrzeuge in Deutschland älter als 7 Jahre ist, also zukünftig jedes Jahr zum TÜV müsste. Überträgt man das auf Europa, müssten demnach knapp 100 Millionen Autos jedes Jahr zum TÜV.
  • Die Preise für die Untersuchung liegen im Schnitt bei etwa 50 Euro.

Bei Versicherungen und gelangweilten Wissenschaftlern herrscht ein großes Interesse an etwas, dass man die Wirksamkeit von lebenserhaltenden öffentlichen Maßnahmen nennt. Das Zentrum für Risikoforschung der Harvard-Universität hat in den 90er Jahren diesbezüglich eine sehr umfangreiche Untersuchung durchgeführt. Dabei beziehen sich die Mathematiker auf eine merkwürdige Einheit – und zwar geben sie die “Kosten pro gerettetem Lebensjahr” an. Wenn ich also durch eine 50€ teure Impfung von einer tödlichen Krankheit geheilt werden kann und dann statistisch noch 50 Jahre lebe, kostet diese Maßnahme also 1€ pro gerettetem Lebensjahr.
Man kann zum Beispiel ausrechnen, wie viel es kosten würde, alle amerikanischen Schulbusse mit Sicherheitsgurten auszustatten (53 Millionen $) und dies dann mit den (statistisch) geretteten Lebensjahren “verrechnen”. Da nur sehr selten tödliche Unfälle geschehen und noch seltener ein Sicherheitsgut ein Leben gerettet hätte, kommt man auf einen Wert von 2,8 Millionen § pro gerettetem Lebensjahr. Die Kontrolle der Radionuklidemissionen in Phosphatfabriken würde 2,8 Millionen Dollar kosten, aber höchstens alle zehn Jahre ein Leben retten. Das ergibt geschätzte Kosten von 9,8 Millionen Dollar pro Lebensjahr.

Vergleicht man nun mehrere solcher Werte, kann man die Effizienz verschiedener Maßnahmen gegeneinander aufrechnen. Wohlgemerkt – es geht hier um Statistik! Ein kleiner Auszug aus der Studie:

  • Die Einführung gesetzlich vorgeschriebener Rauchmelder in Wohnungen würde weniger als 1$ pro gerettetem Lebensjahr bedeuten
  • Schutzimpfungen für Kinder gegen Masern, Mumps und Röteln bewegt sich ebenfalls in Kategorien von weniger als 1$ pro gerettetem Lebensjahr
  • Die Trinkwasserchlorierung schlägt mit 3100$ pro gerettetem Lebensjahr zu Buche.
  • gezielte Verkehrskontrollen an besonders gefahrenträchtigen Orten/Zeiten: 5200$
  • regelmäßige Erste-Hilfe-Kurse für Autofahrer: 180.000$
  • bei Arsen-Emissionskontrollen in Glasfabriken sind wir bei sensationellen 51.000.000$ pro gerettetem Lebensjahr
  • und Benzol-Emissionskontrollen für Reifenfabriken würden für jedes gerettete Lebensjahr statistisch 20.000.000.000$ kosten.

Natürlich ist auch hier wieder die Statistik ein gewitzter Lügenbold: Wenn die Benzol-Emissionskontrollen in der Anschaffung nur 2$ kosteten, könnte man es ja einfach machen. Ist doch gut, wenn es dann alle hundert Jahre mal ein Leben rettet.
Trotzdem bietet diese Auswertung einen kleinen Überblick darüber, in welchem Verhältnis Kosten und Nutzen stehen. Pro Jahr sterben in Deutschland im Durchschnitt fünf Menschen an den Folgen eines Blitzeinschlags – wir könnten sie retten, wenn wir ganz Deutschland mit einem Dach versehen würden. Die Kosten pro gerettetem Lebensjahr betrügen hierbei, nunja – vielleicht eine Idee für eine Fermiaufgabe…

Zurück zu dem Vorschlag der EU, alte Fahrzeuge jedes Jahr zum TÜV zu bringen, um, laut EU-Verkehrskomissar Kallas, bis zu 1100  Menschen pro Jahr zu retten.
100 Millionen Autos die jedes Jahr untersucht werden, sorgen zunächst einmal (s.o.) für Kosten von 5 Milliarden Euro. Wenn wir nun veranschlagen, dass etwa die Hälfte davon nun außerhalb der schon jetzt bestehenden Regelung zur Untersuchung muss, bleiben am Ende noch 2,5 Milliarden Euro Kosten übrig. Zusätzlich zu dem, was heute sowieso schon gezahlt wird.
Pro gerettetem Leben sind das dann Kosten von rund 2 Million €, eingeordnet in die Liste oben also knapp 60.000 $ pro Lebensjahr.

Wenn man sich diese Sammlung an Daten und Rechnungen ansieht, dann kann man den Vorschlag der EU zumindest mit mehr Sachverstand beurteilen, als wenn man dies nach Gefühl als “Abzocke” beschimpft.
Doof kann man es natürlich trotzdem finden. 🙂

6 Gedanken zu „Der statistische Hintergrund des EU-Vorschlags zur TÜV“

  1. Und jetzt noch Lebensjahre nach
    +-Jahren (geht Arbeiten)
    und
    –Jahren(muss ausgebildet werden, bezieht Rente usw.)
    unterteilen und es wird richtig interessant.
    Ich meine das nicht so bös wie sich es liest 😉

  2. Als Ergänzung: wenn jedes Jahr 50 Millionen Autos mehr untersucht werden müssen als vorher, und jede Untersuchung einschließlich An- und Abreise zwei Stunden dauert, dann haben wir 100 Millionen Stunden verlorene Lebenszeit. Das sind ~11.500 verlorene Personenjahre (entsprechend 230 Todesfällen), die man auch noch subtrahieren müsste 🙂

    1. Und mit der An-/Abreise verbunden ist ein Risiko, tödlich zu verunglücken, oder -kostentechnisch noch schlimmer- zum Pflegefall zu werden. Man kann bestimmt irgendeiner Statistik ablesen, wie viele Leben die 50Mio Autostunden kosten werden. 😉

  3. hier eine andere Rechnung:
    2500 Mio. EUR (2,5Milliarden hört sich so wenig an) Umsatz
    EU-Mehrwertsteuer-Durchschnitt : 21%
    ergibt Mehreinnahmen von ca. 525 Mio. EUR pro Jahr.
    😉

  4. Man sollte sich erst einmal überlegen ob der Vorschlag überhaupt den gewünschten Effekt haben kann. Wenn x die Wahrscheinlichkeit eines Unfalltodes innerhalb eines Jahres nach dem TÜV ist, und y diese zwischen ein und zwei Jahren ist, dann unterstellt der Vorschlag
    2x / (x+y) = 900/2000 oder y = 1550/450 x
    Ein knapp dreieinhalb höheres Risiko also, zeigt sich dieses auch in den Statistiken?

Schreibe einen Kommentar zu Thomas Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert