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Der Physiker & die Wahrsagerin

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Vergangenes Wochenende gab es hier in der Nähe ein großes Mittelalterfest. Mit Rittern und Burgfräuleins, Minnesang und Schwertkampf und für zwei €uro Silberstücke konnte man sich sogar zum Ritter schlagen lassen. Und natürlich mit Kartenlegern und Handlesern. Sozusagen die mittelalterliche Entsprechung der Aktienanalysten heute. Und als Physiker, Naturwissenschaftler, Lehrer oder einfach nur als aufgeklärter Mensch wollte ich es wissen. Wirklich wissen!

Ist da was dran?

Auf ihrem Flyer zumindest verspricht die Rote Zora1, wenn sie in meinen Händen läse, würde sie meine Stärken, Talente, genetischen Anlagen, Familienstruktur, Liebesleben und meine Entwicklung erkennen.

“Selbstverständlich dürfen Sie hier erwarten, das ich Ihnen Dinge aus Ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitteile.”

Okay. Die Vergangenheit kenne ich schon und die Gegenwart auch – aber an der Zukunft wäre ich tatsächlich interessiert. Flyer (und im Nachhinein auch die Homepage) lassen darauf schließen, dass die Rote Zora keine Philosophie-Studentin im 17. Semester ist, sondern ihr ‘Handwerk’ als Berufung auslebt. Auf ihrem Flyer stehen eine ganze Menge namhafter Unternehmen, die sie schon engagiert haben. Die macht das nichts zum ersten Mal. Eine Profi-Wahrsagerin sozusagen.

Aber Halt!
IMAG0493Bevor ich mich ins Vergnügen diesem Experiment widme, denke ich kurz nach: ‘Was erwarte ich für ein Ergebnis?’ und ‘Wie beeinflusst meine Erwartung das Ergebnis?’
Gerade Letzteres ist von entscheidender Bedeutung: Wenn ich Scharlatanerie erwarte, dann interpretiere ich auch alles genauso. Die Frau wird keine Chance haben und mein Ergebnis ist nichts wert. Außerdem ist mir nach vielen Folgen “The Mentalist” klar, wie leicht meine Körpersprache  zu interpretieren ist. Seufze ich im richtigen Moment (“Jaja.. damit habe ich schon immer zu kämpfen gehabt”) dann wird die Rote Zora das umzusetzen wissen. Runzle ich die Stirn weiß mein Gegenüber, dass ich nicht einverstanden bin.

Zu Lesen gibt es im “Buch meines Lebens” sicher viel. Kurz gehe ich Eckpunkte meines Lebens durch. Was erwarte ich?
Ich erhoffe mir, dass die Rote Zora tatsächlich was drauf hat. Das sie, kaum dass sie mich sieht, mit der Stimme meiner verstorbenen Oma spricht “Ich weiß, dass du das gute Meissener Porzellan zerschlagen und unter der Spüle versteckt hast, aber ich verzeihe dir…”, oder erschrocken ausruft “Sie sind Lehrer des Monats geworden, aber den PinUp-Kalender mit den heißen Gewinnern hat man Ihnen vorenthalten… daran knabbern Sie bis heute!” Sowas halt. Etwas, dass mich echt vom Hocker haut.

Doch direkt zu Beginn wird meine optimistische Neutralität auf eine harte Probe gestellt – denn genau 7 Minuten Handlesen kosten 20 Euro. Mein lieber Scholli! Also, ich kann nicht Hellsehen, denn hätte ich das geahnt… Aber was rede ich! Für die Wissenschaft ist mir kein Preis zu hoch! Hätte Alexander Fleming zurückgesteckt, nur weil die Petrischalen so teuer waren…?! Niemals!

Ich stimme also zu (bezahlbar direkt per EC-Karte im Zelt) – und die Rote Zora holt ihr Handy hervor, startet eine Wahrsager-App und stellt 7 Minuten ein. Soviel Zeit haben wir also. Dann betrachtet sie meine Hände. 2012-07-29 18.19.51
Betastet sie. Drückt hier und da und dort. Überprüft die Beweglichkeit des Daumens… und übersieht meine (immer noch von den Folgen einer Luxation geschwollenen) Fingermittelgelenke. Das ist schwach.

Gespannt lächelnd höre ich zu. Ich bemühe mich um einen freundlichen Gesichtsausdruck (meine Schüler werden jetzt lachen “Kann der das überhaupt?”) und bleibe passiv. Kein Nicken oder Stirnrunzeln. Einfach nur zuhören.

Früher sei ich schüchtern gewesen, mutmaßt sie (und ich denke daran, dass ich in der Grundschule ein Raufbold gewesen bin), aber heute sei ich präsenter. Mutiger. Ich lächle höflich.
Meine Finger seien sehr stark, muskulös in der Mittelhand. Das hatte aber scheinbar nichts zu bedeuten, denn es kam kein “ohaaa.. das heißt…”. Geduldig höre ich zu.
Heute würde ich mehr auf meine Gesundheit achten, berichtet die Rote Zora, Allergien und so – das sei deutlich besser geworden. Nur mit Mühe kann ich ein Stirnrunzeln unterdrücken. Ich habe keine Allergien. Keine einzige. Auch sei ich nicht mehr so oft krank. Das wäre früher ja ganz anders gewesen. Und ich habe auch nicht mehr so viele Blessuren – Kratzer und Schnitte wie früher. Die Rote Zora stochert im Nebel, wartet augenscheinlich auf eine Reaktion. Ich war früher selten krank (im Gegensatz zu den Nachtspeicheröfen heute, die mich regelmäßig umhauen) und auch die Geschichte mit den Blessuren ist schwach falsch – klar, dass ich als Junge früher im Wald häufiger mal einen Kratzer hatte. Hätte sich die Rote Zora jedoch die Rückseite meiner Hände angesehen, hätte sie eine Menge frischer Kratzer und Narben gefunden. Nicht zuletzt verursacht durch meinen Dienstunfall.

Während ich nichtssagend lächle, blickt die Wahrsagerin immer wieder auf ihr Handy. Das hat sie sich offenbar leichter vorgestellt. Aber ich lasse sie reden und höre nur zu. Und die Rote Zora versucht es mal auf einem anderen Gebiet. Ich sei jemand, der immer 160% gäbe und verlange. Alles müsse perfekt sein und… Meine Gedanken schweifen ab. Soll ich ihr sagen, dass ich als Lehrer einen Halbtagsjob habe? Nachmittags frei und lange Ferien? Oder das ich ein absoluter Verfechter des Pareto-Prinzips bin? Das ich einer jener Studenten mit hoher, zweistelliger Semesterzahl gewesen bin? Meine linke Socke hat ein Loch, aber weil man das im Schuh nicht sieht, habe ich sie trotzdem angezogen. Perfektionistisch? Ich…!??

2012-07-29 18.26.16Vielleicht hätte ich mich nicht im schicken Hemd vor sie setzen sollen. Meine Frau vermutet, dass ich in weniger stilvollem Outfit auch weniger Geld bezahlt hätte. Sei es drum.

Die Rote Zora empfiehlt mir jedenfalls (nach einem erneuten Blick auf ihr Handy), weniger Gas zu geben. Nicht immer alles perfekt zu machen. So wie mir meine Familie es auch rät (dabei sagt meine Frau immer, ich könne durchaus mehr im Haushalt machen). Und einen Buchtipp hat sie auch für mich: “Arbeiten am Rande des Burnout”. Oder so. Aber da klingelt auch schon ihre App. Die Zeit ist um. Schade.

Über mein Liebesleben habe ich nichts erfahren. Auch nichts über meine Talente. Und über meine Zukunft leider auch nicht. Und über die Vergangenheit so gesehen auch nicht. Zumindest kann ich sicher sein hoffen, dass meine Oma nie herausgefunden hat, wer von uns Porzellan in kleinen Stücken in der ganzen Wohnung verteilt hat.

Aber zumindest habe ich es mal gemacht. Den zwanzig Euro habe ich erst wirklich hinterher geweint, als mein Bruder mir süffisant erzählte, er sei in Magdeburg für 13 Euro eine Stunde lang Wasserski gefahren.

Natürlich ist ein exemplarischer Besuch bei einer Handleserin nicht stellvertretend für die ganze Bande Branche. Möglicherweise ist das Gesindel eine Wahrsagerin aus dem Fernsehen besser..!?

Das übrige Fest war sehr schön. Besonders die Schwertkämpfe haben meine Tochter beeindruckt. Wenn das Ganze für mich auch eher beklemmend war. Wie schon bei meiner letzten Reise in eine andere Welt hatte ich auch diesmal Sorge, dass mich jemand von früher kennt. Und ich bin… ja, immer noch dankbar, dass diese Zeit vorbei ist.

1 …die natürlich nicht wirklich ‘Rote Zora’ heißt – aber ich möchte ungern wegen meines losen Mundwerks verklagt werden Zwinkerndes Smiley

4 Gedanken zu „Der Physiker & die Wahrsagerin“

  1. wie schon im Artikel erwähnt steht eine Wahrsagerin nicht für den Rest der Experten in diesem Gebiet. Es gibt Scharlatane und welche die mit echten Fähigkeiten den Menschen helfen Wege aus ihren Problemen auf zu zeigen.

  2. Pingback: #31: Kurt Cobain und die Offenbarung - ...ein Halbtagsblog...

  3. Pingback: Corona positiv trotz Impfung: Ablauf & Verlauf - Halbtagsblog

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