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Inklusion und Parallelgesellschaften

2014-06-17 18.06.07Heute verbrachte ich den Nachmittag in der Musikschule. Die strenge Klavierlehrerin docente piano meiner Tochter (Zitat: “Wir Pianisten sitzen aufrecht!”) hatte Eltern und Verwandte geladen, die Künste ihrer Eleven zu bestaunen. Also saß ich inmitten des Bildungsbürgertums zwischen adrett frisierten Katharinas und Magdalenas und zurechtgestutzten Hendriks und Friedrichs und bestaunte ein musikalisches Wunderwerk nach dem anderen.
Eine echte Parallelgesellschaft mit glücklichen Kindern, die oft zwei Instrumente spielten und vereinzelt wochenends eine japanische Schule im Ruhrgebiet besuchen.
Keine Klassenclowns. Keine Hotzenplotz. Keine Kicker vom Aschenplatz.

Als meine Tochter erfuhr, sie wäre als erstes mit dem Vorspielen dran, entfuhr ihr ein halblautes “ach du scheiße!” Auch wenn sie das Klavierspielen liebt – man ahnt, wes Geistes Kind sie ist. Ich fühlte mich deplatziert.

Heute schreibt SPIEGEL ONLINE einen ausführlichen Artikel Kommentar von Jan Fleischhauer zum Thema Inklusion (klick). Tenor:

An deutschen Schulen hat ein radikales Bildungsexperiment begonnen: Erstmals ist für die Zulassung zu Realschule oder Gymnasium nicht mehr entscheidend, ob jemand dem Unterricht folgen kann. Was allein zählt, ist die Utopie einer Welt ohne Grenzen.

Natürlich stürzt sich auch das Forum auf die “sozialistische Hirnwichse aus dem Elfenbeinturm” (sic!). Allgemein herrscht die Angst, die da unten könnten uns am Lernen behindern. “Was ist mit der Elitenförderung?” rufen sie empört, als würden sie dazu gehören und als ob sie in ihrer Schulzeit irgendeine Form von Hochbegabtenförderung in der Schule erlebt hätten.

Dazu zwei Geschichten aus meiner Schul- und Studienzeit.
Ein (mittlerweile pensionierter) Physiklehrer, der praktisch nur im Vorbereitungsraum saß und korrigierte oder Zeitung las und die “Kinderchen” aufforderte, “nicht so einen Krach zu machen”.
Ein (ebenfalls pensionierter) Erdkundelehrer, dessen Unterricht darin bestand, die Schüler seine OHP-Folien abschreiben zu lassen. Stunde um Stunde. Um Stunde.

Katastrophaler Unterricht. Trotzdem ist aus ihren Schülern etwas geworden. Aus allen. Im Nachhinein blicken sie alle zurück, eher grinsend als grimmig.

In allen Inklusionsdiskussionen gewinne ich wieder und wieder den Eindruck, die Beteiligten würden die Vergangenheit verklären. Als ob es früher keine verhaltensauffälligen Klassenkasper gab, die den Unterricht gestört hätten. Als ob es früher ständig eine Förderung der Begabten gegeben hätte und nicht wie heute “nur eine für die schwachen 20%”.

Ja, es gibt Kinder, die durch ihr Verhalten nicht schulfähig sind. Kinder, die eine so entsetzliche Geschichte mit sich herumtragen, dass es einem die Fußnägel hochrollt und die ihre Wut, ihre Angst und ihre Störung an den Mitschülern und Lehrern auslassen. Und ja, es gibt Kinder, die auf Grund ihrer geistigen Behinderung an einem normalen Leben kaum teilnehmen können.
Solche Kinder gehören nicht in den Regelunterricht.

Aber sie gehören auch nicht in einen Käfig, am Rande der Zivilisation, damit sie uns ja nicht davon abhalten, Zahnärzte, Journalisten oder Anwälte zu werden.

An der Gesamtschule erlebe ich immer wieder, dass ein ganz großer Teil (etwa 50%) der Kinder mit Realschul-Empfehlung am Ende Abitur macht. Und studiert. Das verstehe ich unter Förderung.

Mein Leben wäre einfacher, wenn ich die Hauptschul- und Realschulkinder nicht in meiner Klasse hätte. Wenn ich nur die Katharinas und Magdalenas und Hendriks und Friedrichs unterrichten müsste.
Das Problem ist nur:

Ich wäre nicht dabei. 

Denn ich war ein Klassenkasper, die nur mit viel Geduld und Förderung der Lehrer durch die Schule getragen wurde. Gefühlt bin ich immer noch der Clown. Und sehe ich meine Tochter an, die mir heimlich Grimassen schneidet, während vorne musiziert wird – dann weiß ich, sie nimmt das Beste aus beiden Welten mit.

So soll es sein.

8 Gedanken zu „Inklusion und Parallelgesellschaften“

  1. Danke für den Beitrag, ich würde dir gerne etwas per E-Mail zukommen lassen, das sich auch mit dem Thema beschäftigt, aber mich richtig schockiert hat.

  2. Na ich weiß nicht, ob Sie sich da nicht haben blenden lassen von dem Schein der vermeindlichen Parallelwelt. Ich bin sehr viel in Musikschule unterwegs, da mit einer berufsmusikalichen angeheirateten Verwandschaft gesegnet. Und ich unterrichte „Blaserklassenkinder“ und „Gesangsklassenkinder“. Also hinter dem kurzfristigen Erfüllen der elterlichen und klavierlehrerlichen Erwartungen und dem Blümchensommerkleid und dem adretten weißen Hemd stecken in gefühlten 85% aller Fälle ganz normale Kinder. Das war so in meiner Jugend (der schlimmte Rabauke war der pianistisch hochbegabte Sohn des Kinderarztes) und ist heute noch so. Meine zweiinstrumentige und gesangsunterricht gestälte Tochter verursacht mir laufend Mails bzgl nicht gemachter Hausaufgaben im hohen zweistelligen Bereich und kann einen perfekten Lidstrich auf der Fahrt zur Schule (Bus verpasst wegen trödelei) im PKW ziehen, hält aber Katheten für etwas medizinisches (was nicht an ihrem ausgezeichneten Mathelehrer liegt). Den Sohn haben wir zu seinem Preisträgerkonzert (mit anschließender Preisverleihung) aus einem Zelt des Fußballcamps abgeholt um 8 Uhr Morgends heraustragen müssen um ihn notdürftig renoviert im Konzertsaal an sein Instrument zu setzen. Die einzigen Magdalenas, die auch daheim und in der Schule dem Image der Klavierveranstaltung gerecht werden tragen unaussprechliche Nachnamen und kommen aus Ländern wie Polen, Ukraine, Weißrussland und weiteren Ländern, deren Existenz mir nicht bewusst war bevor ich die Kinder kennenlernte und haben daheim Mütter deren Gnadenlosigkeit aus gemachten Erfahrungen in der Heimat resultiert und im schlimmsten Fall noch ein behindertes Geschwisterkind.
    In den Elternabenden meiner Schule treffen sich die Dr-Titel-Trägerinnen mit den Geschäftsführern und man findet wenig nichtakademische Eltern. Und gerade das bringt uns übersättigte, unmotivierte Kinder, die den Rechtsanwalt der Eltern wahrscheinlich schon als Taufpaten hatten und einen Leistungsstand weit unter der Landeshaupt-Innenstadt-Schule, deren Migrationanteil weit über 50% liegt.
    Ob der rotzfreche, respektlose X. der auf Anweisung der Eltern prinzipiell keine Strafarbeiten macht neben der Posaune noch Fussball oder Klavier spielt möchte ich dann gar nicht wissen. Oder der außländerfeindliche Y. aus der Gesangsklasse, der die brasilianische Mitschülerin gerne als „hässliche braune Kackwurst“ bezeichnet Zuhause bei den studierten Eltern ein „ganz Lieber“ ist, halte ich auch noch kein Hinweis auf eine zukünftige Zugehörigkeit zu einer „Elite“.
    Wenn man diese Leute näher kennenlernt und hinter die Fassade sieht und Jahre mit deren Sprößlingen und den lieben Eltern verbringt, dann freut man sich, wenn in der Liste für den Elternsprechtag die Eltern von Üzgür, Melek, Abdulhadi, Jacek und Kamil stehen, weil diese Namen auf fruchtbare pädagogische Gespräche hoffen lassen.

    LG
    Coreli

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  4. Entschuldige die persönliche Kritik, aber diese Haltung ist mir in meinem „Elite“-Gymnasium, auf das ich aufgrund meiner Herkunft wahrlich nicht gehörte, allzu oft begegnet. „Das Beste aus beiden Welten“? Wegen „Scheiße“ und Rumkaspern? Was ist das Beste aus der „anderen“ Welt für dich, der Hunger am Morgen, die strähnige Frisur, die mangelnde Hilfe bei den Hausaufgaben? Natürlich heißt arm sein nicht gleich schlechte Eltern sein, aber ganz bestimmt bedeutet es auch nicht cool sein. Für Menschen wie mein (früheres)Ich geht es in solchen Äußerungen letztendlich um Abgrenzung und -sorry- Hochmut.

    1. Ich glaube, das hast du in den falschen Hals gekriegt.
      Es gibt mehr als spießig-bürgerlich einerseits und verlottert andererseits. Ich bezog mich auf den Gegensatz zwischen enormem Leistungspensum hier (japanische Schule, mehrere Instrumente, etc.) und dem Freiheitsgedanken (heute kicken? Baumhaus bauen? im See schwimmen gehen? was kümmert mich die Welt) dort. Ich fühle mich eher Letzterem zugehörig.

      Wie gesagt – ich glaube, du hast das in den falschen Hals gekriegt.

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