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Schrankgespenster

Tag 1 der Klassenfahrt liegt hinter mir und ich sitze in meinem Zimmer und tippe ganz leise auf meiner Tastatur, um die beiden Schüler in meinem Schrank nicht zu wecken… – aber ich greife vor.

Ich werde die nächsten Tage immer ein wenig zum Organisatorischen schreiben (für mitlesende Lehrer), ein paar Anekdoten vom Tag (für mitlesende Eltern) und die ein oder andere Information über Inklusion (für mitlesende Politiker). Wir sind gut in Aachen angekommen. Für Kinder ist es in einem doppelstöckigen Regionalexpress das tollste, ‚oben‘ zu sitzen – ein Luxus, der in einem Rollstuhl nicht zu bewältigen ist. Wir waren gespannt, wie sich das in den zweieinhalb Stunden Zugfahrt entwickeln würde, aber (unaufgefordert) sind ununterbrochen Schüler nach unten gekommen, damit den beiden Mitschülern im Rolli nicht langweilig wird.Am Bahnhof haben wir uns zwei Taxen gemietet, um die schweren Taschen zur Jugendherberge fahren zu lassen. Wir sind etwa eine halbe Stunde dorthin gelaufen – die Strecke war (auch mit Rollstühlen) unkompliziert zu bewältigen. In der JHB sind wir überaus freundlich aufgenommen worden – mussten aber eine Zimmeränderung hinnehmen, die unseren „wir-losen-alle-Zimmerpartner-zufällig-aus“-Plan zunichte machte. Blöd. Auch blöd: Ich habe mein Handykabel zu Hause vergessen. Noch hält mein Akku, aber ich schätze, spätestens morgen werde ich von irgendjemandem aus der Klasse sein Kabel unter einem fadenscheinigen Grund einkassieren. („Rieche ich hier Alkohol? Sofort her mit dem Handyladekabel! Ist das auch MicroUSB?“)

Zwar haben sich alle Kinder ordentlich mit Süßigkeiten und Getränken eingedeckt, in der JHB selbst ist aber nur ein einzelner Cola-Automat zu finden – mitgebrachte Lebensmittel sind überdies nicht gerne gesehen. Hm. Nachmittags sind wir in die Stadt marschiert. In den ursprünglichen Zimmergruppen haben alle Schüler dann Aufgaben bekommen, die in einer kleinen Stadtrallye mündete:

  • Finde das Monster von Aachen – macht ein Foto mit euch vor dem Monster.
  • Ein berühmter Aachener Schmied erschlug einst einen Grafen und wurde dafür gefeiert. Findet ihn. Macht ein Foto…
  • Auch die Aachener haben zwei Beine und zwei Arme – aber ein Körperteil ist hier ein besonderer. Welcher? Warum?
  • Es gibt ein berühmtes Gebäck, das es nur in Aachen gibt. Welches? Besorgt etwas davon.

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Während meine Co Ramona mit mir in einem grooooßen Buchladen einen Kaffee trank, lösten die Schüler ihre Aufgaben mit Bravour. Überpünktlich trafen sich alle am verabredeten Treffpunkt wieder (nur Ramona, als Deutschlehrerin, ist in dem Buchladen kurz verloren gegangen) und durften noch eine Stunde durch die Stadt pilgern. Bei den Jungs bedeutet das MacDonalds zu besuchen, bei den Mädchen zu H&M zu pilgern. Nunja, das kulturelle Programm folgt noch.
Auf dem Heimweg haben wir uns in einer Seitenstraße mit meinem Dealer Bruder getroffen, der den ganzen Kofferraum voller Sprudel hatte. Unter größter Geheimhaltung hat die ganze Klasse das Wasser in Jacken und Taschen in ihre Zimmer geschmuggelt – nie habe ich Zwölfjährige so auffällig unauffällig herumschleichen sehen. Wie die bravsten Sonntagsschüler sind sie fröhlich lächelnd an der Rezeption vorbei, grüßten höflich und versuchten (vergebens) den Stoff  das Wasser zu verbergen. Köstlich!
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Abends um halb neun liegen die ersten schon im Bett – obwohl wir noch als Überraschung einen Besuch in der Sternwarte eingeplant haben. Es spricht für die Klassengemeinschaft, dass sich niemand blöde Sprüche anhören muss, egal wann er ins Bett geht. Ich glaube, dies ist auch ein Verdienst unserer Inklusionsbemühungen: In der Klasse herrscht das Bewusstsein vor, dass jeder Mensch anders ist und – soweit es pubertierenden Kindern möglich ist – wird das akzeptiert.

Kurz vor neun trommeln wir den ganzen Haufen noch einmal zusammen. „Wir hätten etwas zu verkünden.“ Großes Getuschel. Ob dies die Überraschung ist, von der so mancher munkelt? „Bestimmt!“ „Nein!“ „Quatsch, Herr Klinge hat gesagt, es gibt keine Überraschung!“
Meine Co strahlt die Klasse an. „Wir haben eine Überraschung für euch!“, präsentiert sie ganz begeistert und schlägt die Hände zusammen. Einige Kinder sind so nervös, dass sie kaum still sitzen können. „Wie ihr wisst, findet in Aachen gerade die Karlsausstellung statt. Ihr werdet euch jetzt alle anziehen und dann gehen wir in die Lange Nacht der Kirchen, wo es eine Ausstellung und ein abschließendes Orgelkonzert gibt.“Lange Gesichter. Murren. Orgelkonzert..!?Hätte ich ihnen das erzählt, wäre sofort Zweifel aufgekommen, aber Ramona nehmen sie die Geschichte ab. ‚Die Nacht der offenen Kirchen.‘ Klingt für eine siebte Klasse nach genau dem Programm, das die Deutschlehrerin ‚cool‘ findet. Trotzdem machen wir uns auf den Weg. Natürlich zur Sternwarte – nicht zum großen Orgelkonzert.
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Entsprechend ist die Überraschung groß, als wir plötzlich vor der Sternwarte stehen. Der Weg dahin führt über typische Schotterwege, die mit den Rollstühlen nur mühsam zu bewältigen sind. Mein Hirn brütet unbequeme Fragen aus: Ist das für die Rollis zu beschwerlich? Hätte man alternative Abendprogramme planen können? Aber müssen umgekehrt alle Kinder jetzt auf Aktionen verzichten, die mit den Rollis nicht möglich sind? Wir werden z.B. nie Segeln können. Wie wollen wir allen gerecht werden? Hm.

Am Ende kriegen wir es hin. Halb geschoben, manchmal getragen.  Uns erwartet ein langer, aber aufregender Vortrag in der Sternwarte, den die Klasse aufmerksam verfolgt und mit intelligenten Zwischenfragen durchbricht. Highlights sind der Besuch der Obersvationskuppel und die echten Meteoriten, die wir in den Händen halten dürfen.

Zurück in der Herberge herrscht Zimmerruhe. sollte Zimmerruhe herrschen. Aber natürlich haben sich ein paar Jungs mit Energydrinks abgefüllt und versuchen ihre Begeisterung Energie irgendwie loszuwerden. In einem ernsten sehr ernsten Gespräch wurden die Konsequenzen aufgezeigt. Nach einem langen Tag herrscht bei mir wenig Lust und Geduld, bis tief in die Nacht pubertären Feiergelüsten zu entsprechen. Oder vereinfacht: Die Jungs schlafen bei mir im Schrank.
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Und weil ich in Ruhe arbeiten möchte, ist der Schrank zu. Leises Atmen dringt wie beruhigendes Blätterrascheln zwischen den Türen hervor. Und damit neigt sich mein Artikel auch einem versöhnlichen Ende zu.
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Wir sehen uns morgen.

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3 Gedanken zu „Schrankgespenster“

  1. Unterhaltsam geschrieben! – Weckt Erinnerungen an die eigenen Klassenfahrten und das Verständnis für die damaligen Lehrer. Wäre schön, wenn auch Politiker diesen Artikel lesen bzw. selbst mal auf Klassenfahrt gehen würden!!

  2. Herrlich! Ich würd sofort mitfahren wollen 😀

    …hach, da werden Erinnerungen wach. Schrankmonster gab es bei uns nicht, wohl aber nächtliche Balkonkletteraktionen, die natürlich erwischt wurden- zum Schrecken aller Beteiligten…

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