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Pädagogik vs. Juristik vs. Inklusion

Tag 2 der Klassenfahrt.
Die Nacht war ganz okay bescheiden. Menschen meiner Körperlänge sollten nicht gezwungen werden, in Jugendherbergsbetten zu übernachten. Mal grundsätzlich gedacht.

Ich bin eigentlich einer von diesen Lehrern vom alten Schlage, gefangen im Körper eines jungen Kollegen. Ettikette Gutes Benehmen ist mir zum Beispiel ganz wichtig und zwei Dinge haben mich die anstrengende Nacht vergessen gemacht: Zunächst haben alle Kinder ihre Tische nach dem Frühstück ordentlich hinterlassen. Außerdem kam ich mit einer der Putzfrauen Servicekräften ins Gespräch, in dessen Verlauf sie erwähnte, die Jungen (!) eines Zimmers seien aus dem Schrank gekrochen und haben sich sehr freundlich bei ihr für das Ausleeren des Mülleimers bedankt und ihr auch einen schönen Tag gewünscht. Hach… Danke, Jungs!

Der Tag begann, wie der letzte aufgehört hat: Mit Regen. Viel Regen. Sehr, sehr, sehr viel Regen. Und das führt uns heute zu einigen (pädagogischen?) (juristischen?) (politischen?) Fragen, die mich den Tag so beschäftigt haben.
Geplant war eine Wanderung zum Dreiländereck.
Da wir zwei Kinder im Rollstuhl mitführen, ist die Planung etwas schwierig. Normalerweise gibt es da gute Wanderwege, die man zumindest mit einem Buggy/Fahrradhänger gut befahren kann und so einen haben wir dabei. Letztlich können wir Lehrer aber keine absolute Planungssicherheit geben – wir können schlecht eine Woche vorher schonmal jeden Wanderweg ablaufen und testen. Und genauso, wie unsere Jugendherberge zwar in der Theorie barrierefrei gebaut ist, hilft uns das in der Praxis nicht, wenn die Rolli-Kinder im Erdgeschoss und der Rest der Klasse in der zweiten Etage untergebracht wird.
So auch die Wanderwege.

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Umgestürzte Bäume und schlammige Pfade sind kaum vorauszusehen.
So entsteht ein Dilemma: Alles abbrechen, weil einige Mitschüler nicht weiterkommen? Der Frust der anderen würde sich auf sie entladen. Die Rolli-Kinder zurücklassen? Wenn man ehrlich ist, ist das auch keine Option. Also Abenteuer: Bäume wurden aus dem Weg geräumt und der Buggy über etliche Pfade und Wege getragen. Im Nachhinein kann man immer den pädagogischen Zeigefinger heben und sich freuen, dass die Klasse gemeinsam Probleme löst und füreinander einsteht und so weiter. In der Situation selbst ist es aber für uns Lehrer, die I-Helfer und auch die betroffenen Kinder extrem stressig.
Aber welche Alternativen gibt es?
Nur noch barrierefreundliche Spaziergänge? (auch das Kopfsteinpflaster von Aachen ist für Rollstühle nur so halb cool) Museumsbesuche? Die Parallelklasse fährt Kanu. Geht Segeln. Absolviert Survivalcamps.

Am Dreiländereck war es genauso regnerisch, wie im Wald. Zwei Stunden sind wir etwa marschiert, meist fröhlich pfeifend. Dort haben wir die Schüler in das berühmte Labyrinth geschickt.

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Regengüsse von oben. Wasserfontänen von unten. Nach einer Dreiviertelstunde haben einige das Ziel gefunden, andere aufgegeben und wir fanden uns in einer richtigen holländischen Friture zum Aufwärmen und Essen wieder.

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Wir haben gegessen und getrunken und gelacht und gespielt.
Und sind im Regen zurück gewandert. Was mich erneut in den Bereich der Juristik führt: Wir Lehrer sind für unsere Schüler verantwortlich. Das äußert sich in Fragen der Haftung („Herr Klinge, kann es nicht sein, dass Jerymys krummer Rücken daher rührt, dass er drei Tage in Ihrem Schrank schlafen musste?“) aber auch ganz bodenständig in Sachen ‚Menschenverstand‘.
Konkretes Beispiel aus dem Winter: Schneeballschlachten sind pädagogisch cool – aber aus Sicherheitsgründen verboten.
Konkretes Beispiel im Regen:

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Der Jurist in mir sagt: „Die Kinder könnten krank werden. Eventuell sind die Schuhe der Jungs hinüber und du tust nichts.“ Du handelst ‚grob fahrlässig‘.
Der Pädagoge in mir sagt: „Die Jungs freuen sich wie bolle, endlich mal wieder in Pfützen springen zu dürfen, ohne das die Mama schimpft. Sie sind sowieso schon nass bis auf die Unterbuxe. Sie haben gute Laune, obwohl es ununterbrochen gießt. Die nehmen nachher ne heiße Dusche und gut is!“

Was soll ich als Lehrer hier tun?
Immer auf Nummer sicher gehen? Das bedeutet auch, ganz schön viel Unsinn im Leben zu verpassen.

Heute Abend wird es ruhiger. Hoffe ich. Der Schrittzähler im Handy gibt mir Hoffnung.

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Bis morgen. Dann wirds nochmal spannend.

15 Gedanken zu „Pädagogik vs. Juristik vs. Inklusion“

  1. Ja das ist wirklich ein Problem. Wofür entscheidet man sich?? Für Spass und ein wenig Unsinn oder den juristisch sicheren Weg? Dafür macht mir Spass … den Artikel im trockenen Zuhause zu lesen, obwohl Köln auch gerade zugeregnet wird.

    1. ist sicher auch eine einzelfallentscheidung – in dem fall ist „spaß“ sicher vorzuziehen.

      Allerdings denke ich, dass es auch Situationen gibt, wo Sicherheit vorgehen sollte …

  2. Ich als Mutter bin im Zweifelsfall auf jeden Fall für den Spaß. Und erinnere mich dann eben zähneknirschend an in Eigenregie ruinierte Schuhe, in einer weniger überwachten Kindheit.

  3. Lieber Herr Klinge,

    es ist ein Genuss, Ihre Tagesberichte zu lesen!

    Sie zaubern einem „alten“ Vater ein Lächeln aufs Gesicht und lassen den Tag fröhlich beginnen (ich wünschte, meine Kinder hätten solch einen engagierten Lehrer!!).

    Ihre Sorgen verstehe ich, glaube aber, im tiefsten Herzen werden auch „Ihre“ Eltern Verständnis haben – Sie sind ein Pädagoge im Besten Sinne und leben Ihre(n) Beruf(ung).

    Ihnen und Ihrer Klasse noch viele Abenteuer, keine ärztlichen Notwendigkeiten und – vor allem – besseres Wetter!!

    Herzliche Grüße aus Berlin

  4. Hallo ich bin einer der Eltern und ich kann D-Berlin nur recht geben.
    Wir ( bestimmt alle Eltern) wissen glaube ich gut um die vielen engagierten Lehrer auf dieser Schule. Insbesondere natürlich […]

  5. Herrlich diese Berichte 🙂

    Ich fahre selbst regelmäßig mit Kindern und Jugendlichen auf Ferienfreizeiten und kenne genau die Probleme.

    Im Zweifel entscheide ich mich aber immer für den Spaß. Wenn es Spaß macht verletzt sich auch nicht so schnell einer, was die Kids teilweise einstecken ist schon erstaunlich 🙂

    In den Herbstferien bin ich wieder mit 50 Teilnehmern für eine Woche unterwegs und ich hoffe jetzt schon, dass ich ein paar Chaoten dabei habe.
    Das Beispiel mit dem Pfützen ist genau treffend. Ich muss die Kids mittlerweile anstiften mal Blödsinn zu machen oder sich gegenseitig streiche zu spielen. Die haben zum Teil Angst Ärger zu bekommen, denen fehlen einfach vernünftige Ideen oder kennen kein Maß wodurch nachher Sachen oder Personen zu Schaden kommen.

    Bis jetzt habe ich durchweg positives Feedback von den Eltern bekommen weil die Kinder immer was spannendes zu erzählen haben. Und selbst bei Verletzungen oder gerissenen Hosen gibt es keinen Stress.

    Ihre Tagesberichte und die vielen positiven Kommentare geben Hoffnung das es sich irgendwann alles wieder etwas lockert.

  6. Pingback: Ein letztes Mal…. Frühstücken! – halbtagsblog

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