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#36 Mein Problem mit der Bibel

Ich habe ein Problem mit der Bibel. Und kein kleines.

Ich bin nämlich gebürtiger Ägypter. Ich bin gemütlicher Babylonier. Ich bin ein Römer in seiner Villa.

Und das wird zu einem Problem.

Denn ich versuche der Bibel offen zu begegnen, ihre Worte wirken zu lassen – aber ich bin kein hebräischer Sklave, der unter der ägyptischen Sklaverei leidet. Ich bin kein nach Babylon verschleppter Jude. Und ich bin kein Hebräer des ersten Jahrhunderts, der unter der römischen Knechtschaft leidet.

Ich bin der Einwohner einer Supermacht. Ich bin unter europäischen Eroberern groß geworden. Ich lebe in einem mächtigen Staat. Und doch möchte ich die Bibel lesen und hoffe, dass sie zu mir spricht.

Und das ist ein Problem.

Einer der bemerkenswertesten Aspekte der Bibel ist, dass sie aus der Perspektive der Armen, der Versklavten, der Unterdrückten, der Besiegten geschrieben ist. Schon deswegen ist sie prophetisch. Denn normalerweise wird die Geschichte von den Siegern geschrieben – aber nicht hier. Hier finden wir das Gegenteil. (Ich entdecke darin eine ganz tiefe Wahrheit: Die Autoren der Bibel schrieben von ganz tief unten.)

Stellen wir uns kurz vor, die Cherokee Indianer und Afrikanischen Sklaven würden die Geschichte Amerikas des Kolonialzeitalters beschreiben. Diese Geschichte klänge definitiv anders!

Und genau dies macht die Bibel. Es ist die Geschichte Ägyptens, erzählt von ihren Sklaven. Die Geschichte Babylons, erzählt von den Verschleppten. Die Geschichte Roms, erzählt von den Unterdrückten.

Und was ist mit den lichten Momenten, da es Israel gut ging? In diesen Fällen traten die Propheten auf und versuchten den Blick der Herrschenden auf die Armen zu richten. (z.B. als Amos die Damen des israelischen Adels als die „fetten Kühe von Bashan“ beschimpft)

Jede Geschichte der Welt ist aus einem bestimmten Blickwinkel erzählt, hat eine gewissen Tendenz. Die Bibel erzählt vom Standpunkt der Armen, der Versklavten aus.
Aber was geschieht, wenn wir diese spezielle Perspektive verlieren? Was passiert, wenn die Reichen und Mächtigen sich in die Bibel „einlesen“, aber nicht als Ägypter oder Römer, sondern als Israeliten? Ich glaube, dass dann jenes bizarre Weltbild herauskommt, bei dem der eigene Reichtum, die eigene Macht mit Hilfe der Bibel als Gottes Wille deklariert wird. (Natürlich habe ich zuerst amerikanische Fernsehprediger vor Augen, bevor ich an mich selbst denke.)

Dies ist das römische Christentum nach Konstantin. Das ist Christentum auf dem Kreuzzug. Das sind Kolonisten, die Amerika und Afrika als das von Gott verheißene Land betrachten und die Bewohner als Kanaaniter, die es zu vertreiben gilt. Das ist die Geschichte europäischer Kolonialisierung. Das ist Jim Crow. Amerikanisches Erfolgs-Christentum. Die Domestizierung der Bibel. Im Grunde passt man Gott dem eigenen Amüsement an.

Als Jesus von der Ankunft des Himmelreiches predigt, erzählt er immer wieder, wie revolutionär Gottes Herrschaft würde. „Die letzten werden die ersten sein“ und so. Ich weiß nicht, was euch bei diesem Erster –> Letzter – Aphorismus durch den Kopf geht, aber der moderne Römer hinter diesem Text wird ein bissel nervös.

Man stelle sich folgendes vor: Eine mächtige, charismatische Figur taucht in der Weltpolitik auf und vereinigt eine gewaltige Masse an Menschen hinter sich. Dieser Mensch predigt immer wieder, wie er die Welt neu anordnen wird und jene, die ganz unten wären, würden bald über denen stehen, die jetzt herrschen. Wie würden die Leute reagieren?
Ich kann mir die Menschen von Bangladesch vorstellen, wie sie „Wann geht’s los?“ rufen und die Europäer mit einem „Moment mal! Das muss sorgfältig überdacht werden!“

Und nun wollen wir uns Jesus vorstellen, der Gottes Himmelreich verkündet mit all seinen revolutionären Ansätzen. „Gesegnet seien die Sanftmütigen, ihnen soll das Himmelreich gehören.“ Wie wurde das aufgenommen?
Nun, das hängt wohl davon ab, wer es hörte. Der arme Galiläer hat es sicher als Gute Nachricht (Evangelium) aufgefasst, während ein Römer in seiner Villa das sicher kritisch betrachtet hätte (Ich kann mir Claudius vorstellen, wie er sich zurücklehnt, eine Traube in seinen Mund fallen lässt und so etwas sagt wie „Das klingt verdächtig nach Sozialismus!“)

Und diese Herausforderung begegnet mir in der Bibel. Ich bin kein galiläischer Bauer. Wie absurd! Ich bin der Römer in seiner prachtvollen Villa mit fließendem Wasser und ich muss das ehrlich betrachten: Auch ich kann das Evangelium als gute Nachricht auffassen (weil sie das ist), aber zuerst muss ich ihre radikale Natur annehmen und nicht versuchen, sie in mein komfortables Leben reinzudrücken.

Ich bin ein (relativ) wohlhabender Mann. Was nicht verwerflich ist, aber es bedeutet, ich muss hart arbeiten, um die Bibel gründlich zu verstehen. Ich muss mich in eine Reihe stellen mit dem Pharao, mit Nebukadnezar und Cäsar. Und mich dann fragen: Was fordert die Bibel von mir? Freiwillige Armut? Nicht notwendigerweise. Aber die Bibel ruft mich zu tiefer Demut auf – einer Demut, die sich in Gastfreundschaft und Sanftmut äußert. Es ist nichts falsches daran, ein wohlhabender Europäer oder Amerikaner zu sein – aber dann ist man besser demütig und gastfreundlich und sanftmütig.

Wenn ich die Bibel mit einer angemessenen Perspektive und Demut lese, dann erzähle ich die Geschichte von Lazarus und dem reichen Mann nicht als Beweistext, um andere zu verdammen. Ich nutze sie als Erinnerung, dass ich ein reicher Mann bin und Lazarus vor meiner Tür liegt. Ich nutze die Eroberungsgeschichte von Josua nicht als Rechtfertigung meines eigenen Wohlstandes, sondern betrachte mich als Rahab, die Neulinge willkommen heißen soll. Ich sehe mich selbst nicht als Elijah, der das Feuer vom Himmel ruft – ich bin mehr wie Nebukadnezar, der seinen Hintern besser hochkriegt, um sich zu ändern.

Ich habe ein Problem mit der Bibel – aber noch ist nicht alles verloren. Ich muss mich nur auf den Kopf stellen, wenn ich sie lese. Ich muss meine Perspektive verändern. Wenn ich akzeptieren kann, dass die Bibel jene emporhebt, die nicht wie ich sind.. vielleicht kann ich die Bibel dann richtig lesen.

Aus der Feder von Brian Zahnd. Dank auch an Rob Bell.

 

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