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Dyskalkulie in der Wissenschaft

Im Unterschied zur Lese-Rechtschreib-Schwäche wird Dyskalkulie (Rechenschwäche) in der weiterführenden Schule nicht im gleichen Rahmen als Lernschwäche anerkannt. Im Falle von LRS können Schülerinnen und Schüler bei Klassenarbeiten bspw. mehr Zeit bekommen oder die Rechtschreibung fließt nicht in die Bewertung ein.

Für Dyskalkulie gilt das (bisher) nicht. Überhaupt ist umstritten, ob es eine Mathe-Schwäche  wirklich gibt (auch wenn in meinem Bekanntenkreis jeder zweite darunter zu leiden glaubt). Spannend ist an dieser Stelle die Verdrahtung von Mathematik im Hirn.

Mathematik als Produkt der Evolution

Der Tübinger Hirnforscher Andreas Nieder ist davon überzeugt, Dyskalkulie mithilfe eines MRT nachweisen zu können. Bei Experimenten mit Rhesusaffen konnte er für die Zahlen von 0 bis 30 jeweils „Lieblingsnervenzellen“ diagnostizieren, deren Aktivität bei einer bestimmten Zahl am höchsten war. Dies spricht für eine direkte Verknüpfung von mathematischen Konzepten mit konkreten Hirnzellen. Wären diese Hirnareale (der Präfrontale Kortex und der Intraparietale Sulcus) weniger ausgebildet, könnte man eine Lernschwäche nachweisen. Nieder folgert aus seinen Ergebnissen weiterhin, dass mathematisches Verständnis einProdukt der Evolution ist. Die Fähigkeit, zu zählen – oder allgemeiner: Größen abzuschätzen – hilft Lebewesen, in ihrer Umwelt zu überleben.

Mathematik als Produkt der Kultur

Diese These ist allerdings nicht unumstritten. Der chinesische Wissenschaftler Yiang Tang von der chinesischen Akademie der Wissenschaften hat ebenfalls mit einem MRT gearbeitet – und kommt zu ganz anderen Ergebnissen.
Tang hat Chinesen und Engländer beim Rechnen mit arabischen Zahlen tomografiert. Bei den verschiedenen Gruppen zeigten sich ganz unterschiedliche Hirnareale aktiv – was der Wissenschaftler auf die kulturellen Unterschiede beim Lesen und Schreiben zurückführt. Je nachdem, in welcher Welt man aufwächst, verknüpfen sich unterschiedliche Areale des Gehirns mit den mathematischen Fähigkeiten. Tang betrachtet den Umgang mit Zahlen also als kulturell erworbene Fähigkeit.

Für die Schule hätten die unterschiedlichen Interpretationen gravierende Folgen.
Die feste Verdrahtung von Mathematik im Hirn nach Nieder hätte zur Konsequenz, dass man Dyskalkulie explizit nachweisen könnte. Schulen und Lehrer müssten zwangsläufig darauf reagieren.
Tangs Ansatz hingegen weist nach, dass es nicht den mathematischen Bereich im Hirn gibt. Als kulturell erworbene Fähigkeit wäre jeder Mensch imstande, mathematische Vorstellungen zu beherrschen.
Trotzdem stehe ich als Lehrer vor der Situation, dass Schülerinnen und Schüler einer weiterführenden Schule nicht in der Lage sind, im Zahlenraum bis 100 zu rechnen.
Hier gilt: Üben, üben, üben. Und gerne Hilfen und Ratschläge holen und das Üben bei familiärem Stress abgeben!
(Einen wichtigen Ansatz sehe ich darin, frühzeitig und in spielerischer Form mit dem Zählen zu beginnen. Mit zweijährigen Kindern kann man schon Apfelstücke zählen. Wenn wir mit dem Auto durch einen Tunnel fahren oder vor einer roten Ampel stehen, beginnen wir immer laut bis zehn zu zählen damit wir aus dem Tunnel wieder herauskommen oder die Ampel umspringt. Dieses Niveau lässt sich langsam und nebenher steigern („Zwei Apfelstücke liegen da und wenn ich dir nochmal zwei gebe, wie viele hast du dann?“))

8 Gedanken zu „Dyskalkulie in der Wissenschaft“

  1. In meiner Ausbildung als Gymnasiallehrer habe ich bisher überhaupt keine Berührungspunkte mit Dyskalkulie gemacht und hatte das erste mal Kontakt, als mich Eltern gefragt haben, ob ihr Kind Dyskalkulie haben könnte. Dabei habe ich gelernt, dass man Dyskalkuliue wohl durchaus ordentlich diagnostizieren kann ( siehe https://mathe-therapie-zentrum.de/), indem die Schüler beispielsweise Aufgaben laut rechnen und man dabei zuhört wie sie diese bearbeiten. Es gibt gleichzeitig auch gute Ansätze, Schüler mit Dyskalkulie fördern.

    Ich bin mir auch nicht sicher, ob das frühe Zählen von großer Hilfe ist. Denn meist ist die Dyskalkulie in der Schwierigkeit verhaftet, Mengen zu erfassen. Besser wäre es daher an Vorstellungsübungen zu arbeiten. Auch das Üben, üben, üben wird oft nicht zum Ziel führen, denn ohne eine Vorstellung von Mengen, bleiben die tatsächlichen Probleme beim Rechnen unangetastet und die Schüler können ihre Schwächen nur bestmöglich kompensieren.

    Den Ansatz über Üben, üben üben stelle ich mir so vor, wie der Versuch eines Analphabeten seinen Alltag ohne Lesen und Schreiben zu absolvieren. Durch tägliches Training kann man da viel erreichen und kompensieren, aber man wird natürliche Grenzen niemals überschreiten, wenn man nicht Lesen und Schreiben lernt. Man wird immer nur um seine Schwäche herum arbeiten.

    Am sinnvollsten erscheint es mir, ähnlich wie bei Hochbegabung Fachkräfte zur Hilfe zu nehmen, die sich mit dem Sachverhalt auskennen. Ich würde die Kinder daher weiter verweisen. Für Lehrer würde ich mir wünschen in diesem Bereich stärker ausgebildet zu werden, um die Schüler besser erkennen und fördern zu können.Für Grundschulen gibt es ja wohl bereits geeignete Lehrwerke. Für die Sekundarstufe/Gymnasium ist mir aber nichts bekannt.

    1. Ich stimme vollständig zu.
      Unter „Üben, üben, üben“ hat wohl jeder andere Assoziationen. Meine ist „Ich habe LRS – ich brauche das nicht zu können!“. Manchen fällt es leicht, anderen nicht – aber am Ende muss jeder lesen, schreiben, rechnen können. Und das geht für manche mit mehr, andere mit weniger Übung/Training/Aufwand/Methoden.

  2. Medizinische Literaturrecherche ist seit gut 25 Jahren ein Hobby von mir. 😉 Aber weil ich wie der Blogschreiber mich grundsätzlich zur Faulheit bekenne, hier nur PubMed, clinical queries:
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/clinical?term=„learning%20disability“%20mathematics
    Der letzte Review:
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29441282
    Transl Pediatr. 2018 Jan;7(1):48-62. doi: 10.21037/tp.2017.08.03.
    Specific learning disability in mathematics: a comprehensive review.
    Soares N1, Evans T1, Patel DR1.
    (Der Review ist unter obigem Link im Volltext verfügbar.)

    Gibt es eine geeignetere, pädagogische Literaturdatenbank?

    Meine persönliche Meinung: Es ist die heutige Unterhaltungsüberflutung. Ich war immer sehr gut in Mathe, aber was blieb mir auf dem platten Land anderes übrig? Nur 3 Fernsehsender (nur ein Familienfernseher), Gemeindebibliothek, ich einer von 2, 3 Gymnasiumsbesuchern auf dem Dorf. Da war Kopfrechnenüben mit dem HP 41C (Programmlisting per Hand abgetippt für ein zufallsgeneratorgesteuertes Lernprogramm) Abwechslung und Herausforderung. Heute empfehle ich unseren Töchtern für ihre Smartphones die App „Mathematik: Kopfrechnen“:
    https://play.google.com/store/apps/details?id=com.astepanov.mobile.mindmathtricks&hl=de
    Die Resonanz ist sehr begrenzt, aber wie sollte es anders sein, wenn es zig andere Sachen gibt, die unterhalten ohne Anstrengung? Jedenfalls sind unsere Töchter (9, 11) immer erstaunt, was und wie schnell ich im Kopf rechne. (Ich nicht, ich weiß, daß ich viel schlechter bin als vor 35 Jahren.)

    1. Danke für die Hinweise!
      Der bescheidene Erfolg verschiedener Apps ist nicht nur in der Mathematik, sondern auch bei Sprachen etc. zu beobachten. Letztlich geht es um Fleiß und Grammatik lernen oder Polynomdivision ist nunmal nicht immer aufregend und toll.
      Oh – und gegen den Vorwurf der Faulheit würde ich mich wehren, aber aktuell – gerade jetzt – habe ich keine Lust dazu. Vielleicht ein andermal. 😉

  3. Lieber Jan,
    wie du weißt, bin ich eine Mutter mit einem Tochter-Mathe-Problem. Lucy ist überall wirklich gut und sehr gut, ihr Denken ist flüssig, ihre Sprache eloquent, sie ist für verschiedene Begabungswettbewerbe vorgeschlagen. In Mathe fehlt ihr jedoch oft das intuitive Verständnis. Ich glaube dennoch nicht, dass sie unter Dyskalkulie leidet.

    Letztes Schuljahr hatte sie einen Lehrer, der anders erklärt hat, der von den schwächeren Schülern ausgegangen ist und geübt hat, geübt und geübt. Leider hat der Lehrer die Schule verlassen. Und nun sitzt Lucy wieder im üblichen Matheunterricht: sie versteht die Mathesprache nicht, das Lehrbuch ist absolut keine Hilfe, der Praxisbezug der Matheaufgaben ist haarsträubend an den Haaren herbeigezogen, geübt wird nicht in dem Maße, das wird ausgelagert. Der Lehrer ist nett, gar keine Frage, aber er versteht Mathe und kann sie also denen nicht erklären, die Mathe nicht verstehen. Lucy ist wiedermal ganz unten. Nach einem erfolgreichen Mathejahr ist wieder mal aus die Maus.

    So geht es nicht nur mir. Momentan finden ja mehrere Mathematik-Diskussionen gleichzeitig statt, es ist überhaupt nicht klar, wie mir scheint, was wie vermittelt werden soll. Verschiedene Studien belegen vielmehr, dass die Leistungen allgemein immer schlechter werden.
    Wir Eltern wollen alle nicht jammern, wir wollen, dass unsere Kinder besser werden, aber wir sind hilflos.
    Was sollen wir Eltern tun? Ich habe mit Lucy Treppenstufen gezählt, als sie klein war, sie hat den Mathekönig rauf und runter gespielt, Lucy kann Aufgaben rechnen, wenn wir zusammen in Ruhe am Küchentisch sitzen, sogar Sinnlos-Textaufgaben!, im Laden lasse ich sie Rabatte ausrechnen, Mathematik ist aktiver Bestandteil unseres Lebens. Lucy ist alles andere als faul. Und alles andere als dumm. Aber die nächste schlechte Note in Mathe steht bald ins Haus. Und sie ist nicht die einzige ihrer Klasse, der es so geht.

    Ich frage dich inständig: was rätst du uns Eltern?

    1. Zuallererst: Jede, auf konkrete Personen bezogene Fernanalyse betrachte ich als so sinnvoll wie eine ärztliche Diagnose auf den ersten Händedruck.
      Aus deiner Perspektive würde ich mit genau diesen Details zum Mathematiklehrer gehen und _ihn_ fragen, was er empfiehlt. Er kennt deine Tochter und seine eigenen Anforderungen.
      Mir begegnen solche Fälle selten – in neun von zehn Fällen der mathematischen Minderleistung liegt es an Faulheit oder „falschem Lernen“. So wie ich Fontanes Effi Briest stundenlang gelesen habe, ohne auch nur irgendwas in mein Gedächtnis aufgenommen zu haben, sind auch viele SuS intensiv beschäftigt, ohne aber wirklich konkret zu lernen. Das scheint auf deine Tochter aber nicht zuzutreffen. Die Frage an den Mathelehrer muss also lauten: Welche Hilfen/Differenzierungen kann er im Unterricht zur Verfügung stellen, um den einzelnen Kindern zu helfen.
      Mein eigener Unterricht ist sehr transparent gestaltet, die Klassenarbeit ist nie ein Überraschungsei sondern basiert immer auf der Lerntheke – das kommt den Fleißigen zugute.

  4. Eine spannende Diskussion. Dyskalkulie ja oder nein. Was macht man konkret, wenn ein Kind sich mit Mengenerfassung total schwer tut? Ich habe diverse Steinchen, Nudeln,.Spiele…..im Klassenraum, um es ganz praktisch zu üben. Mit gefühlt mäßigem Erfolg….
    Habt ihr Tipps?
    Der Unterricht findet ich einer DaZ Basisklasse statt. In unserem Stundenplan gibt es fest verankert Mathematikstunden. Was ich grundsätzlich für die spätere Integration richtig finde. Leider bin ich keine ausgebildete Mathematiklehrerin….
    Gerade beschäftige ich mich intensiv mit der Frage: Welches Kind könnte eine Dyskalkuie haben? Oder: Ist das kultuerelle Zahlenverständnis unterschiedlich? Fällt mir dies auf die Füße? Das Zahlen in jeder Sprache nach einem anderen System benannt werden, weiß ich. Gibt es noch andere grundsätzliche Dinge, die ich zu „fremden Zahlensystemen“ wissen könnte/ sollte?
    Wie sind eure Erfahrungen?

    1. Ich habe keine Erfahrung mit echter Dyskalkulie.
      Ich habe aber Erfahrung mit – von Eltern – eingeredeter Dyskalkulie. Und Erfahrung mit Schülern, die nie gelernt haben, wie man richtig lernt. Diese Punkte kann man alle konkret angehen.

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