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5 Minuten Schulleitung: Request to Retest

Zuweilen stolpere ich unbeabsichtigt in Diskussionen über den Sinn von Klassenarbeits-Berichtigungen. Während sie mir in fremdsprachlichen Fächern schlüssig erscheinen („Von der Hand in den Verstand“) sehe ich das im Bereich Mathematik anders. Ob Rasmus, der nach fünf Wochen nicht verstanden hat, wie man Brüche addiert und dann eine schlechte Arbeit schreibt, sich das Thema durch eine anschließende Berichtigung aneignet, ist zumindest diskutabel. Während er beim Schreiben englischer Texte zumindest die Vokabeln nochmal wiederholt.

Oder: Rasmus verhaut einen Physiktest. Nach sechs Wochen des Lernens und Experimentierens ist anscheinend nichts hängen geblieben. Nicht gelernt? Oder einen schlechten Tag gehabt?
Letztlich völlig egal, denn ich bin als Lehrer (fein) raus: Ich habe meine Pflicht erfüllt, andere Schüler haben den Test/die Klausur ja auch bestanden – Rasmus hat halt Pech gehabt, hätte er mal besser gelernt! Ich kann ja schließlich nicht alle retten!

Über das Internet bin ich auf das Konzept des „Request to Retest“ gestoßen. Nach einem versemmelten Test könnte Rasmus dieses Formular (s. Bild) ausfüllen. Was war deine letzte Note? Hast du eine Erklärung? Welche drei Dinge hast du getan, um das Thema besser zu verstehen? Etc.etc.
Damit kann Rasmus mir nun die Anfrage stellen, erneut geprüft zu werden.

5 Minuten Schulleitung: Request to Retest 1

Anstelle des „Pech gehabt, nächstes Thema“ oder aber einer „aufgezwungen Berichtigung“ tritt hier die aktive Möglichkeit des Schülers, seinen Fehler auszubessern.

„Aber“, höre ich in Gedanken den (berechtigten?) Einwurf, „wie viele Chancen sollen die Schüler den bekommen? Im richtigen Leben läuft das doch auch nicht so!“
Dazu habe ich natürlich eine eigene Meinung – aber an dieser spannenden Stelle wird aus dem Gedanken, Schülern eine weitere Chance zu bieten, eine größere Diskussion:

  • Was für ein Bild von Schule habe ich?
  • Welches Menschenbild habe ich vor Augen?
  • Was verstehe ich unter „Bildung“?
  • Wie sehr gewichte ich „Erziehung“?
  • Was bedeutet „Lernen“ für mich?
  • Wie stelle ich mir die perfekte Schule (nicht: die perfekten Schüler!) vor?

Und nun geht es nicht mehr nur um mich und mein Bild von Unterricht. Es geht um die Frage, in welche Richtung sich meine Schule in den nächsten Jahren entwickeln könnte. Das sind Gedanken, die ich als Teil einer Schulleitung noch aktiver verfolgen darf und muss, als ehedem als Lehrer: Wo wollen wir hin? Wie soll unsere Schule in zehn Jahren aussehen?

Das ist unglaublich spannend und immer wieder diskutiere ich mit meiner Schulleitung, was wir als Schule genau wollen. Was unsere Vision von Schule ist. Und, Mensch!, das ist aufregend!

Das Konzept „Request to Retest“ werde ich in meinem eigenen Unterricht ausprobieren. Natürlich muss man sich Gedanken über Form und Bewertung des zweiten Anlaufs machen. Das könnte ja eine mündliche Prüfung sein. Und natürlich wird ein zweiter Versuch nicht genauso gewichtet, wie der erste.
Aber letztlich geht es doch im größten Teil der Schulzeit gar nicht so sehr um Prüfungsergebnisse, sondern um Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken. Um Eigenverantwortung und Bildung und Menschwerdung.
Wenn Rasmus sich hinsetzt und die Bruchrechnung nochmal mit seinem Papa übt und dann zwei Seiten aus dem Mathebuch durcharbeitet um mir anschließend zu demonstrieren, wie viel er gelernt hat – dann hat er doch viel, viel mehr als nur die Bruchrechnung gelernt.

Und das entspricht meinem Bild von Schule.

20 Gedanken zu „5 Minuten Schulleitung: Request to Retest“

  1. Danke für diese Idee. Und ich finde, im richtigen Leben läuft es sehr wohl so (oder so ähnlich); ich jedenfalls habe schon einige zweite Chancen bekommen, viele Fehler wieder beheben dürfen und werde nur dadurch immer besser, neue zu vermeiden.
    Schule als teaching to the test ist vorbei, nur so können wir den SuS einen Eindruck von lebenslangem Lernen vermitteln.

  2. Hallöchen,
    ich finde das auf jeden Fall einen guten Ansatz. Schließlich sollte die Schule dafür da sein etwas zu lernen und vor allem auch zu verstehen. Wenn dem Schüler so eine zweite Chance hilft, das Thema/die Themen besser zu verstehen, dann ist das doch eine gute Sache.

    Gerade was das Zitat „wie viele Chancen sollen die Schüler den bekommen? Im richtigen Leben läuft das doch auch nicht so!“ betrifft, muss ich ihm widersprechen. Ich kann zwar nur für meinen Bereich sprechen, aber gerade in der Informatik ist es so, dass wenn etwas schief gelaufen ist und das Programm nicht so läuft, wie man möchte, wird erneut versucht das Problem zu lösen bis man die richtige passende Lösung gefunden hat. Und gerade das man es erneut versuchen soll, wenn etwas schief gelaufen ist und nicht gleich aufgeben soll, ist doch eine wichtige Eigenschaft die SuS in der Arbeitswelt helfen kann.

    Viele Grüße
    Abigail

    1. Hm, der Informatikvergleich hinkt meines Erachtens etwas: Wenn ich als Auftraggeber*in (Lehrer*in) bei einer/einem Programmerier*in (Schüler*in) eine Leistung bestelle (Klassenarbeit schreibe) und bezahle (Lebenszeit während der Korrektur), erwarte ich ein funktionierendes Programm (gutes Ergebnis). Während des Erarbeitungsprozess (Lernprozesses) können/dürfen/sollen/müssen Fehler gemacht und reflektiert werden, das ist völlig unproblematisch, nicht aber so im Endprodukt (Klassenarbeit). Während Jan-Martin in seinem Vorschlag unterbreitet, als Lehrer*in auch an dieser Stelle Lebenszeit/Energie/Nerven/… zu investieren, ist sicherlich kein*e Auftraggeber*in der Welt bereit, Geld für eine neue Version des Programms bereitzustellen, wenn (bewusst) ein nicht funktionierendes Programm abgeliefert wurde.

  3. Danke für diese Idee. In unserer Schulstufe wäre dies abgeändert auch möglich (Berufsfachschule). Ich bin mit dir einig: Wenn Lernende eine Lernleistung zeigen wollen, möchte ich nicht im Wege stehen! Natürlich muss man den Aufwand im Auge behalten, aber wenn durch ein solches Formular eine Eigenleistung bewiesen werden muss, hat die erneute Kompetenzüberprüfung auch einen anderen Wert. Nur schon das Gespräch mit den Lernenden (und ohne dieses gibts bei mir nichts 😉 ) ist extrem wichtig. Gerade heute habe ich von einem Lernenden folgende Rückmeldung erhalten: „Vielen Dank für ihr Verständnis und für die Zeit die Sie investiert haben, um unsere Arbeit nochmals anzuschauen. Wir wissen dies zu schätzen.“
    Ich glaube dieses Team hat durch das Versemmeln einer Arbeit auch sonst noch viel gelernt.

  4. Ich finde die Idee gut und – viel wichtiger – konstruktiv. In einigen Bereichen des Primarbereichs, Fach Deutsch, gibt es schon ähnliche Ansätze, nicht den ersten Test zu bewerten, sondern diesen Test anschließend zurückzugeben, ihn überarbeiten zu lassen und anschließend die überarbeitete Fassung in die Bewertung einfließen zu lassen.
    Die „Philosophie“ dahinter ist für mich – wie so oft – sinnvoll. Und – wie so oft – steht meinem pädagogischen Idealismus mein innerer Pragmatiker gegenüber, der schon jetzt für die Korrektur einer Deutscharbeit ca. 30-45 Minuten einplanen muss. Das zu verdoppeln ist eine Arbeitsleistung, die ich gar nicht bewältigen kann.

    Ich bin gespannt auf deine Erprobung und Evaluation! 🙂

    LG Sandra

  5. Ich gehe ja allerdings als Schüler auch meist nicht in die Klassenarbeit mit dem Gefühl ein nicht funktionierendes Produkt abzuliefern, sondern habe ich mich im Normalfall darauf vorbereitet. Um dann zu merken es funktioniert nicht so wie es sollte bzw. habe etwas falsch verstanden.

    Also liefere ich ein Produkt zu dem Zeitpunkt nach besten Wissen und Gewissen ab. Dann fällt dem Kunden auf, dass er noch etwas benötigt oder etwas gerne anders möchte oder man schlichtweg an einer Stelle aneinander vorbei geredet hat oder es finden sich während der Laufzeit des Programmes Fehler, die bei Tests vorher nicht aufgefallen sind. Wenn der Kunde nicht einen Vertrag abgeschlossen hat, dass der Programmierer so lange nachbessern muss, bis das Produkt zu seiner vollsten Zufriedenheit abgeschlossen ist, zahlt er für diese Änderungen und Ergänzungen jedes Mal. Ist die erbrachte Leistung einmal bezahlt, hat der Kunde keine Chance mehr auf kostenlose Nachbesserung.

  6. Finde ich richtig gut. Wird auch anderen Lerntypen helfen, mehr Potential zu entfalten. Für „das spätere Leben“ ist es auch gar nicht so schlecht zu lernen, dass man dran bleiben kann, sich etwas erarbeiten kann, was einem nicht zufliegt. Und zu dieser Möglichkeit sollte es noch Erweiterungen des andersartigen Lernens und geprüft werdens geben. Ich finde es toll, wenn Schule sich dahin entwickeln könnte/würde.

  7. Lieber Jan-Martin, kennst du das Finnische Schulsystem?
    Ich kenne mich leider auch nicht wirklich damit aus, mir ist aber aus der PH in Erinnerung geblieben, dass die Oberstufe als Kurssystem läuft. Um dieses zu durchlaufen, sind eigentlich 3 Jahre vorgesehen. Man kann es aber auch in 2 oder 4 Jahren machen, je nachdem, wie viel man nebenher arbeiten muss, wie viel Zeit Hobbys benötigen, ob einem Lernen leicht oder schwerfällt…
    Außerdem gibt es – und daran muss ich bei deinem Artikel denken- wohl die Möglichkeit Prüfungen zu wiederholen.
    Anders als in D, wo man pro Prüfung nur eine Chance hat, und wenn man diese versemmelt, eine Wiederholung des Stoffes – ist eine Verbesserung dort gewünscht:
    Man kann sich wohl nochmals anmelden, den Stoff nochmals durchgehen und sich erarbeiten und dann seine Prüfung verbessern. Ziel ist es, dass am Ende des Stoff verstanden wurde.
    Ich hoffe, meine Erinnerungen täuschen sich nicht.
    Ich weiß aber noch, wie fasziniert ich von dieser anderen Denkweise des Schulsystems war.
    Liebe Grüße
    Gute Nacht Susan

  8. In den Universitäten gibt es auch immer die Möglichkeit zur Wiederholung, oft sogar eine, meist eingeschränkte Möglichkeit zur Notenverbesserung. Haben wir da bisher etwas falsch gemacht? Sicher nicht. Der oder die Studierende soll ruhig nochmals lernen. Was soll das schaden? Mir ist bisher noch gar nicht aufgefallen, dass diese Möglichkeit in der Schule (bis auf die Abitur-Prüfung, glaube ich) nicht existiert.

    Und zu dem Kommentar über den Programmiren in der Praxis: Programme werden nicht perfekt erstellt. Wer schon einmal ein „fertiges“ Programm abgeliefert bekam, weiß etwas anderes zu berichten. Es wird getestet, Beta-Phasen werden durchlaufen, Bugs werden beseitigt, Funktionalität wird nachgerüstet, es wird gelernt, das Programm besser zu machen. Mir scheint, sogar Handwerker arbeiten heute so. Die Welt ist zu kompliziert geworden.

  9. Eine schöne Idee. Ist ja eigentlich auch nichts anderes als wenn ich eine ganze Klasse die Arbeit wiederholen lasse, wenn die Arbeit sehr schlecht ausgefallen ist. Nur eben auf individueller Ebene.

    Ich müsste mir nur Gedanken machen, was ich als „Beweis für deinen Fleiß“ akzeptieren würde. Und was ich mache, wenn 13 Schüler das wollen (wie und wann organisiere ich die Nachprüfung).

    Gut, dass noch Zeit ist bis zu den nächsten Prüfungen. Das werde ich mal im Kollegium ansprechen. Vielen Dank für die tolle Anregung!

    1. @Jessica: Ich habe diese schöne Idee übernommen und die gleichen Gedanken gehabt wie du.

      Meine Idee war die Anforderungen an den Wiederholungstest zu erhöhen, so dass der Schüler wirklich arbeiten muss und nicht einfach noch ein paar Fragen von mir bekommt.

      „Request
      Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mein Wissen in einem 10 min Vortrag zu
      demonstrieren. Ich habe eigene Beispiele zum Zeigen und werde ein fremdes Beispiel
      lösen. Ich habe hart daran gearbeitet, dieses Thema endlich zu verstehen.“

  10. Lieber Jan-Martin,
    bei uns gibt es bereits die 2. Chance, die gerne angenommen wird. Ich werde morgen Nachmittag wieder einige 9er freiwillig bei einem zusätzlichen Mathetest in der Schule haben, die Ihren letzten Gelingensnachweis nicht so geschafft haben, wie erhofft. Das Formular und deine Worte zum Thema Schule und Lernen bestärken mich weiter. Einfach „Danke dafür“! Rebecca

  11. Pingback: Ist das in Ordnung, dass mündliche Noten so viel besser sind als schriftliche? – Lehrerzimmer

  12. An sich eine gute Sache, wenn der Schüler aus triftigen Gründen nicht seine gewohnte Leistung erbringen konnte. Auch ohne 2. Chance zum gleichen Thema hat er noch weitere Möglichkeiten sich zu verbessern.
    An meiner Schule ist es sogar Pflicht ein Klassenarbeit nachschreiben zu lassen, falls der Schüler dies möchte. Das hat dazu geführt, dass die Kinder den Test schreiben und im Anschluss gleich nach einem neuen Termin fragen. Als Lehrer darf man dann die doppelte Arbeit auf sich nehmen – eine sehr unbefriedigende Situation.

    1. Ja, da möchte ich nicht hin.
      Daher auch der zwingende Anhang „Beweise für die eigene Arbeit“ beizulegen. Aus Jux und Dollerei hat da niemand Lust drauf.

  13. Pingback: Von der Schule zum Nobelpreis.

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