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Das Streben nach Glück.

Die erste Woche ist rum und ich hatte, nach vielen Konferenzen und systemischen Dingen auch und vor allem das Vergnügen, meine neue fünfte Klasse kennenzulernen und – was soll ich sagen – es ist Liebe!

Meine Co und ich haben zwei Tage lang im ständigen Wechsel Orga-Kram (Buchausgabe, Adressen überprüft) und schöne Dinge (Besichtigung der Schule, Kennenlernspiele) gemacht. Im Gedächtnis geblieben ist heute die Begutachtung unserer nagelneuen naturwissenschaftlichen Räume („Wow! Dürfen wir hier auf einmal Unterricht haben?“ – „Na, vielleicht!“). Dabei habe ich es mir nicht nehmen lassen, dass Schul-Skelett kurz in den Raum zu fahren und eine gruselige Geschichte dazu zu erzählen („Niemand kennt seinen Namen! Man weiß nur, dass er in den Sommerferien hier eingesperrt wurde!“).

An meiner Schule werden in den Jahrgangsstufen 5-7 immer Klassenlehrer-Teams gebildet. Das erleichtert nicht nur neuen KollegInnen den Einstieg ungemein, sondern ist auch für die Kinder ein absoluter Gewinn. Und so sehr ich ein Hansdampf in allen Klassen bin – meine Co hat ein Gespür für die vielen Dinge, die mir entgehen. Das macht einfach nur Spaß!

Mein absolutes Highlight des heutigen Tages war meine traditionelle „Mathematik ist wie dieses Bild“-Stunde.
Wer es nicht kennt: Anhand eines Bildes erkläre ich meinen Schülern (und Eltern) gerne, wie es sich mit der Mathematik (und dem Lernen im Allgemeinen) verhält. Ich bitte sie dann, schweigend das folgende Bild zu betrachte, ohne den anderen mitzuteilen, was sie darauf zu erkennen glauben.

Optische-Täuschung-klin_thumb.jpg

Die meisten Schüler (und auch alle anderen) erkennen auf dem Bild nichts als ein wildes Muster von schwarzen und weißen Flecken. Moderne Kunst oder so.

Aber zwei oder drei unter ihnen verstehen das Muster. Sie sehen, was hier abgebildet ist.

Und genauso verhält es sich mit der Mathematik. Man hat stets ein oder zwei Begabte, die – scheinbar ohne zu lernen – direkt durchsteigen. Die nur Einsen schreiben und sich mühelos in jedes Thema einarbeiten.
Der große Rest aber versteht erstmal gar nichts. Schwarze und weiße Flecken. a2+b= …was?

Ich lasse den Schülern dann Zeit. Zeige ihnen das Bild wieder und wieder. Und dann kommt ein “Aahhh!” von hier, ein “Jetzt seh ich’s!” von dort. Die meisten Schüler brauchen Zeit.

Viel

Zeit.

Mit dem Bild genauso, wie mit der Mathematik. Und je länger sie brauchen, um zu erkennen, was hier zu sehen ist, umso intensiver erleben sie diesen Moment des “Aahhh“, diesen Moment des Verstehens. Wenn aus einem wirren Muster plötzlich ein sinnvolles Bild entsteht. “Jetzt seh ich es auch!”
Und wenn die Mitschüler rufen „Das ist doch baby-einfach“, dann erzeugt das nur noch mehr Frust und man fühlt sich dumm – genau wie im Unterricht!

Das Problem mit der Mathematik ist, dass viele Schüler keine Lust haben, sich den Inhalt zu erarbeiten. Denn das ist anstrengend und kostet Zeit. Sie wollen sich lieber erklären lassen, was auf dem Bild zu sehen ist. Wenn man es aber nicht selbst versteht, dann hat man nicht diesen Moment des Verstehens. Dieser Augenblick, wenn im Kopf ein Schalter umkippt.

Die Art, wie die Kinder mit dieser Aufgabe umgehen ist überaus spannend zu beobachten: Wer ist schnell frustriert und gibt auf? Wer hat den Biss, durchzuhalten? Meine Schüler sollen in dieser Stunde leiden und frustriert sein – genau das ist der Punkt. Genau dann, wenn man keine Lust mehr hat, doch dranzubleiben.

Dieser „Moment“ der Erkenntnis lies sich heute wieder vielfach beobachten – aber an einem Jungen ganz besonders:
Dieser Schüler verweigerte jeder Hilfe – gab ich erste Tipps, hielt er sich die Ohren zu und blickte minutenlang ernst und konzentriert auf das Bild. Ein Streben nach Erkenntnis. Er versuchte es zu erzwingen und man sah in seinem Gesicht, wie er den Frust niederrang. Und als er es, kurz vor Ende der Stunde, schließlich erkannte, brach er in so lauten und fast schon hysterischen Jubel aus, dass die ganze Klasse mitlachen musste. „Ja! JAAA! Herr Klinge! JAAAAA! ICH SEHE ES!!!! JAAAAAA!“, schrie er und sprang auf und lachte und jubelte und war überglücklich und schlug sich an die Stirn.

Um diesen Augenblick geht es mir. Diesen kurzen Moment.

Ich wünsche meiner neuen fünften Klasse, meinen neuen Schülerinnen und Schülern ganz viele dieser Momente: Das eine Erkenntnis sie vom Stuhl reißt und begeistert und sie nicht anders können als zu rufen „JA! JAAA! DAS IST ES!“

2 Gedanken zu „Das Streben nach Glück.“

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