Die Herbstferien stehen an und die letzten Wochen bin ich mit meiner 8. Klasse nicht gerade zimperlich umgegangen. Täglich wurde sich bei mir über Regelverstöße („Schulgelände verlassen“), mangelnden Arbeitseifer („sitzt nur herum“), vergessenes Material („kein Heft, kein Tablet“) oder Schludrigkeit beschwert. Eine ganz normale 8. Klasse, mitten in der Pubertät halt.
Auch ich selbst bin unzufrieden: Seit Wochen laufe ich den Praktikumszetteln hinterher und ein Teil der Klasse seufzt nur schwerfällig und verspricht, sich „demnächst“ darum zu kümmern.
Entsprechend war die Stimmung in den letzten Wochen eher frostig. Wiel ich wenig Freude an der Rolle als Schimpfe-Onkel habe, hab ich das Gespräch mit den Klassensprechern gesucht, mit einzelnen Kindern und der Gruppe insgesamt.
Der Tenor jedesmal: „Sie müssen noch strenger sein, bis es alle verstanden haben!“
Na danke schön!
Heute wäre die letzte Mathestunde vor den Herbstferien gewesen. Zwei Schüler fragten mich – ohne jede Hoffnung – ob wir nicht mal etwas spielen könnten. Nach kurzer Überlegung hielt ich das für eine gute Idee: Die letzte Stunde vor den Ferien zur Einführung des neuen Themas ist im Grunde verschenkt: Alles, was ich mache, ist in drei Wochen wieder vergessen.
Also habe ich zugestimmt – und ich wusste auch genau, welches Spiel sich die Kinder wünschen würden: Das einzige Gruppenspiel, bei dem sie in der fünften Klasse gescheitert sind – die Murmelbahn.
Jedes Kind (es sind inzwischen eher Jugendliche) bekam einen flachen, einen Meter langen Kabelkanal-Deckel in die Hand. Alle stellten sich in einer Reihe auf und bilden eine lange Bahn. Ich rollte eine Murmel auf die erste Schiene, wer die Murmel an den nächsten abgegeben hat, rennt ans Ende der Schlange und verlängert die Bahn. So geht es immer weiter.
Auftrag: Die Murmel muss von Bahn zu Bahn durch das halbe Schulhaus, vom Foyer des Atriums bis in die oberste Etage rollen. Vier Treppen aufwärts und durch den Flur. Sobald die Murmel jedoch herunterfällt, müssen alle wieder am Anfang beginnen.
Um den Einsatz zu erhöhen gab es einen Einsatz: Wenn die Kinder gewönnen, würde ich bei Gelegenheit nochmal Pizza bestellen und wir würden einen Film gucken. Wenn sie scheitern, dann würde ich den kommenden Wandertag in einen „Mathe-Tag“ verwandeln und acht Stunden Matheunterricht am Stück halten.
Wir haben in der 5. und 6. Klasse jede Menge dieser Übungen durchgeführt und ich war neugierig, wie die Klasse sich – nach all der Zeit – jetzt anstellen würden.
Und war überrascht!
So sehr mir diverse unterrichtliche Dinge zuletzt auf den Zeiger gingen, verwandelte sich dieser Haufen missmutiger Teenager plötzlich eine zielorientierte, sozial denkende und arbeitende Gemeinschaft. Es wurde schlagartig still. Zwei Kinder übernahmen die Leitung und wurden von den anderen in ihren Rollen auch so akzeptiert. Fiel die Kugel herunter, begaben sich alle anstandslos an den Anfang. Hier und da wurde frustriert geflucht – aber nie so, dass der Gedanke im Raum stand, aufzugeben und hinzuschmeißen.
Pädagogisch wunderbar sind sie einmal kurz vor dem Ziel, als sie sich schon auf der dritten Etage befanden, gescheitert. Hektik, Unkonzentriertheiten – und dann war es vorbei. Aber niemand wurde angeschrien. Es gab keine Schuldzuweisungen. „Das nennt man Resilienz“ habe ich den Kindern erklärt. „Mit Rückschlägen umgehen, sich nicht unterkriegen lassen.“
Zwischendurch dachte ich, dass das vielleicht nur meine subjektive Wahrnehmung ist, aber auch die Schulbegleiterin – seit Beginn Teil der Klasse – bestätigte meine Beobachtung: Die Jungs und Mädchen sind richtig, richtig gut miteinander. Eine beeindruckende Entwicklung seit Klasse 5. Als hätte ich es geplant, haben sie das Ziel erst in den letzten zwei Minuten und im letzten möglichen Durchlauf erreicht – entsprechend laut waren Jubel und Begeisterung. Keine (giftige) Häme mir gegenüber, sondern ehrliche Freude darüber, diese Herausforderung gut geschafft zu haben.
Mir hat diese Stunde unglaublich gut getan, einmal aus der Rolle des Mahners und Schimpfers herauszukommen. Das war dringend nötig. Und auch den Kindern hat das gut getan. Jetzt dürfen die Ferien gerne kommen.

Großartig. Das Einzige, was mich an diesem Artikel ärgert ist, dass ich selbst das Spiel nicht mit meinen Schülern machen kann. Sie hätten den Beitrag vor 10 Jahren veröffentlichen müssen. Da war ich noch im Dienst!