Nach vielen Wochen (Herbstferien, Praktikum, Klassenfahrt) habe ich meine 10er heute das erste Mal wieder gesehen. Obwohl wir jede Menge Physik nachholen müssten, wollte ich doch wissen, wie die Erfahrung im zweiwöchtigen Praktikum gewesen sei. Ein Schüler meldete sich und erzählte, ihm habe es im Betrieb so gut gefallen, dass er um eine Ausbildungsstelle gebeten habe und in zwei Wochen sei er zu einem Einstellungstest vorgeladen.
Ein paar Sprüche wurden gemurmelt, dich ich nicht so recht einsortieren konnte – auf Nachfrage kam dann raus: Ein Mitschüler hatte einen ähnlichen Test bereits hinter sich und etwas verlegen raunte er halblaut, dass das nicht so geil gelaufen sei.
Was für ein spannender Moment: Der Schüler hatte wenig Bedürfnis, dieses unangenehme Erlebnis vor der ganzen Klasse auszubreiten. Und so sehr ich die Scham nachempfinden kann, so anders empfinde ich in meinem Leben und so anders versuche ich, meinen Unterricht zu gestalten.
Wir waren vergangenes Wochenende mit Freunden unterwegs, die ihren Kampf gegen den Krebs feierten. Ein ganzes Wochenende ein einziges „Ich bin noch da“.
Ich glaube, dass wir Menschen nie so nah sind, wie im Schmerz. Nie so ehrlich sind, uns nie so verbunden fühlen können, wie wenn uns ein Mensch gegenübersitzt und konstatiert: „Dieses und jenes hat eine so tiefe Wunde in mir gerissen, dass ich gar nicht weiß, wie ich mich davon je wieder erholen kann.“
Immer dann, wenn die Instagramm-Maske eines guten Lebens so sehr zerbricht, dass es weder Tipps noch wohlgemeinte Ratschläge gibt, sondern man nur schweigen kann – dann lernen wir einander wirklich kennen.
Obwohl der Schüler es in dem Moment nicht wahrnahm, brannte die Klasse darauf, seine Geschichte zu hören. Nicht, um sich über ihn zu erheben, sondern um daraus zu lernen. Um zu verstehen, wie man dem gleichen Schmerz entgehen kann.
Und einerseits weiß mein erwachsenes Ich: Ein blöder Einstellungstest ist nichts als eine bedeutungslose Fußnote in einem Leben, an die man sich in zehn Jahren nicht mehr erinnert. Da werden euch noch ganz andere Tragödien ereilen.
Und andererseits verlangt der Mensch in mir, genau dem hier und jetzt und heute eine Bühne zu bieten: „Kinder, zeigt euch nicht nur als Superstars die immer alles im Griff haben. Teilt euer Versagen. Teilt eure Fehler miteinander. Lernt. Tragt einander. Lernt durch Schmerz.“
Ich habe weite Teile meiner Familie an Krebs verloren, darunter ein Elternteil, als ich kaum alt genug war, mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Ich war in der Schule schlecht, habe die Regelstudienzeit um das Doppelte überschritten und bin auf entsetzlich beschämende Weise durch zahlreiche mündliche Prüfungen gefallen. Die Liste der Dinge, über die ich gerne den Mantel des Vergessens breite ist um ein Vielfaches länger, als die meiner Heldentaten.
Aber wir lernen einander am Besten in den Tiefen unseres Lebens kennen.
Und es hat mir viel bedeutet, dass der Schüler nach kurzem Zögern dann doch ausführlich von jenem schlecht gelaufenen Einstellungstest erzählte.

Du bist so ein toller mehr Pädagoge. Danke dir für den Blogbeitrag. Das mit den bedeutungslosen Fußnoten trifft auf sehr viel zu, was die Schule jeden Tag für bedeutungsvoll hält.
Vielen Dank für die freundlichen Worte. An guten Tagen bin ich einigermaßen erträglich, denke ich.
Pingback: Geschichten über Schmerz und Versagen - Bildungsweise
Ein toller Beitrag, vielen Dank! Dieses ständige Sich-Sonnen-im-eigenen-Glanz, das wir durch social media ja auch direkt befeuern macht uns für die Misserfolge tatsächlich blind. Sie sind fast zu einem Tabu geworden.
Umso wichtiger, dass auch wir als Lehrkräfte in dieser Hinsicht ein Vorbild sind. Die wenigsten ziehen das in dieser Hinsicht aber tatsächlich durch und zeigen vor einer Klasse Schwäche. Ich bin da auch nicht gut drin. Sofort hat man Angst vor Autoritätsverlust. Aber es macht umgekehrt auch sofort authentisch.