Auf der Konferenz ‚Bildung Digitalisierung 2025‘ in Berlin plädierte der große Vogel der pädagogischen Galaxis1, John Hattie, für ein neues ‚maßgeschneidertes Lernen‘, das im Gegensatz zum
- individualisierten Lernen
- selbstgesteuerten Lernen
- personalisierten Lernen
nun alles besser mache. Natürlich nur, wenn man es auch richtig anwendet. Denn bei den genannten Lernformen gelte: „Das größte Problem liegt in der Überbetonung des Alleinarbeitens“. Häh?
Ich bin genervt. Sowohl von Hattie im Speziellen als auch der Bildungsforschung im Besonderen und wer an dieser Stelle denkt: „Jo, typisch Lehrer: Verwehrt sich evidenzbasierter Bildungsforschung und hört nur auf sein Bauchgefühl“ mag vielleicht recht haben. Aber ein paar Gedanken dazu:
Schlecht umgesetzte Idee 1 vs. gut umgesetzte Idee 2
In Deutschland gibt es etwa 32.332 allgemeinbildende Schulen. Weder ich, noch Hattie oder irgendwer sonst kennt auch nur 1% von ihnen wirklich gut, aber die Vorstellung, dass an irgendeiner von ihnen Kinder mit Arbeitsblättern und der Aufforderung: „Mach mal alleine – das ist selbstgesteuertes Lernen“ hingesetzt werden, erscheint mir absurd. Und Hattie sagt auch gleich: Schlecht umgesetzt wäre das halt… schlecht.
Hm. Hm.
Ein Gegenentwurf ist das von ihm erdachte „maßgeschneiderte Lernen“. Wenn man das nämlich richtig umsetzen würde, dann…
Bitte?
Eine schlecht umgesetzte Methode ist immer schlechter, als eine gut umgesetzte. Das sind doch Binsenweisheiten.
Studien sind schwer durchzuführen und selten eindeutig
In dieser Studie aus dem Jahr 2022 wurde das sogenannte „Cold Calling“ untersucht: Also Kinder auch dann dranzunehmen, wenn sie sich nicht melden2. Ergebnis: Kann gut sein. Kann schlecht sein. Die Studie basiert auf zwei Schulen, aber das Ergebnis wäre wohl auch ähnlich, wenn man 5000 Schulen untersuchte. Ist auch intuitiv klar und maximal abhängig von der Lehrer-Schüler-Beziehung, der vorherrschenden Angst vor dem Fach und der Bedeutung meiner Leistung: Geht es um die Versetzung oder nur um eine „3 in Reli“?
In dieser Studie wurde der Einsatz verschiedener Multimedia-Tools beim Lernen untersucht: Multimedia-Prinzipien wie ‚Text plus Diagramm‘ bringen demzufolge die besten Lernergebnisse — besonders für Faktenlernen, Inferenz und Transfer. Aber: Die Effektivität von Multimedia hängt deutlich vom Lernziel ab und die Effekte nehmen über die Jahre ab, möglicherweise weil der Neuigkeitswert schwindet und der Kontext diverser wird.
Also gut, wenn man es gut anwendet und schlecht, wenn man es schlecht anwendet.
(M)ein Problem mit ‚evidenzbasierter Bildungswissenschaft‘
In der Physik oder Medizin stellt man eine These auf und wiederholt ein Experiment unter nahezu gleichen Bedingungen immer und immer wieder, um ihr eine gewisse Aussagekraft zu verleihen: Medikament A erzeugt bei Männern mit Alter X und Leiden Y in der Regel die Wirkung Z.
In einer maximal heterogenen Schullandschaft lassen sich solche Experimente jedoch nicht mit den immer gleichen Voraussetzungen wiederholen. Die Vielzahl der Variablen die das Geschehen im Klassenraum beeinflussen ist so gewaltig, dass ich erhebliche Zweifel habe, was die Aussagekraft vieler Studien angeht:
- ein „Systemsprenger“-Kind reicht aus, um praktisch jeden Unterricht und jede Methode ad absurdum zu führen. Und ja, ich kenne Fälle von Kindern, die unter den Tisch krabbeln und eine Schulstunde lang „Hund“ spielen und zur Belustigung der Klasse bellen und jaulen.
- eine Gruppe pubertierende Jungs, die sich gegenseitig in ihrem zur Schau getragenen Desinteresse zu überbieten versucht, hat großen Einfluss auf das Lernklima. Aber: Die gleichen drei Kasper haben bei Lehrkraft 1 großen Einfluss auf die Klasse und bei Lehrkraft 2 kaum.
Vor Jahren habe ich zwei absolute Granaten im Physikunterricht, die – aus welchem Grund auch immer – einen Narren an mir gefressen haben. Deren Zeugnis am Ende der 10. Klasse bestand nur aus 4en und 5en – und einem verdienten „sehr gut“ in Physik. Aber lag das an meinen Methoden? An mir? Fanden die das einfach witzig? Kann man daraus irgendwas ableiten? - ich arbeite gerne (und erfolgreich) mit Lerntheken. Ich halte „individualisiertes“ oder „maßgeschneidertes“ Lernen für absolut zielführend – denn meine heterogene Schülerschaft erreiche ich mit Lehrervorträgen selten. Aber Montags in der ersten Stunde muss ich anders arbeiten, als Mittwochs in der dritten oder Freitags in der letzten Stunde. Gleicher Lehrer. Gleiche Klasse. Gleiches Fach.
- die Schullandschaft ist unglaublich heterogen: Familien- und Sozialstrukturen sind im Bundesland Bayern ganz anders zusammengesetzt, als in Teilen des Ruhrgebietes. Schaue ich nur nach Berlin findet man dort von Brennpunkt bis Privatschule die gesamte Bandbreite des Schulsystems. Kämpfen die Lehrkräfte ums Überleben? Bekommen sie Unterstützung von der Schulleitung oder knirscht es? Oder sind sie vielleicht so verwöhnt, dass sie sich nicht anstrengen müssen? Wie will ich da breit die Effektstärke von Methoden messen?
Dazu kommt: Viele Dinge, die ich im Unterricht mache, haben zunächst keine direkt beobachtbare Wirkung.
Konkretes Beispiel: Die ersten beiden Jahre habe ich mit meiner Klasse eine Vielzahl an Team-Spielen gespielt. Woche für Woche. Heute beobachte ich, dass die Kinder toll zusammenhalten und wir wenig Ärger innerhalb der Klassengemeinschaft haben. Ist das eine langfristige Folge der Spiele? Oder habe ich nur zufällig tolle Kinder? Oder trete ich so (dominant) auf, dass die Kinder mit dem Ärger gar nicht erst an mich herantreten?
Ist das eine universelle Weisheit? Wie soll man das herausfinden?
Und nun?
Ich betrachte die Aussagekraft vieler Studien skeptisch. Die ursprüngliche Hattie-Studie erschien 2009 und untersuchte hunderte Bildungsstudien, die aus einer Zeit stammten, bevor es das iPhone gab. Alles, was dort an Aussagekraft über Multimedia drinsteht, ist doch völlig bedeutungslos, weil es Dinge wie Snapchat, TikTok und chatgpt noch nicht gab.
Gleichzeitig halte ich die Forschung für eminent wichtig – aber nicht, um gewünschte Ergebnisse zu feiern („Seht ihr! Habe ich doch schon immer gesagt!“), sondern um als Lehrkraft voranzukommen und sich fortzubilden: „Sieh her, deine Lieblingsmethode ist nicht per se gut, sondern sollte unter den Bedingungen x und y durchgeführt werden.“
Da sind wir wieder beim großen Vogel der pädagogischen Galaxis: Auf den Lehrer kommt es an.
Und ja – aber der darf und soll und muss sich mit Bildungsforschung beschäftigen. Und gleichzeitig immer wieder einsortieren, was dabei herauskommt.
1 „Der große Vogel der Galaxis“ war der Spitzname des Star Trek Erfinders Gene Roddenberry, der – je nach Perspektive – wie ein Schutzgeist oder Raubvogel stets über allen Entscheidern kreiste
2 In der Sek1 gilt in NRW die sogenannte „Holschuld“, d.h. ich muss als Lehrkraft aktiv Leistung einfordern – im Unterschied zur „Bringschuld“ in der Sek2, wo die Verantwortung beim Schüler liegt. Wenn ein Schüler sich in der Sek.1 niemals meldet, kann ich das als Lehrkraft nicht einfach abhaken und „mangelhaft“ nennen.

Zustimmung. Ergänzend: Schüler*innen schätzen authentische Lehrkräfte, die sich pädagogisch/ didaktisch/ menschlich nicht verstellen und nicht etwas darzustellen versuchen, was sie eigentlich gar nicht sind. Bildungsforschung und ihre Akteur*innen empfinde ich, auch aus persönlicher Erfahrung, häufig als „von oben herab“; Lehrer*innen werden auch aus der universitären Lehrerfahrung heraus als Problem gesehen und ihre Tätigkeit als wenig beachtenswert, entsprechend realitätsfern sind dann viele „Produkte“ aus der Forschung, zumal diese halt produzieren muss, um Mitteleinsatz zu rechtfertigen. Ich glaube, dass in der jeweiligen Lehrkraft das eigentliche Potential schlummert und man dieses durch Freiheiten freisetzen muss, auch da sie die jeweilige Lerngruppe am besten kennst. Mehr Vertrauen in unsere Professionalität!
Jaein – Professionalität heißt aber auch: Weiterbilden. Fortbilden. Erkenntnisse der Bildungswissenschaft ernst nehmen und einsortieren.