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Blogparade #6: Antifaschistische Politik in die Schule?

Vorbemerkung: Eine Reihe von bildungsaffinen Bloggern hat sich zum Ziel gesetzt, 2024 häufiger thematisch gemeinsam zu bloggen. Die Themenvorschläge werden an dieser Stelle gesammelt, alle Beiträge zum aktuellen Thema sind unter dem Beitrag zu finden. Wer sich beteiligen möchte, aber keinen Blog hat, kann gerne einen Beitrag einreichen – er wird dann als Gastbeitrag publiziert.


Früher™ war ich der Ansicht, dass die Vermittlung von Fachinhalten das Kernelement von Schule sei: Ich weiß etwas nicht, also erlerne ich es in der Schule. Später™ änderte ich meine Meinung: Im Grunde muss man nichts wissen, man kann ja alles nachschlagen.
Gegenwärtig™ habe ich eine dritte Position eingenommen (man lernt ja dazu): Das Erlernen von einigen, wenigen Basiskompetenzen halte ich aktuell für die wichtigste Aufgabe von Schule und je älter ich werde, desto wichtiger erscheint mir partizipatives Demokratieverständnis (im weitesten Sinne) als Kernkompetenz eines mündigen Menschen.

Wie sieht das konkret aus?

Das Thema Werteerziehung beschäftigt unser Kollegium aktuell:

  • Welche Werte sind für uns als Schule / für mich als Lehrkraft / für mich als Mensch eigentlich wichtig?
  • Warum?
  • Sind diese Werte auch für die Kinder wichtig? Wirklich?
  • Wie vermittle ich diese Werte im Unterricht?

Simples Beispiel: Mir ist Pünktlichkeit sehr wichtig und reagiere ungehalten, wenn sich bei meinen Schüler*innen ein ‚kommste heute, kommste morgen‘-Schlendiran einschleicht. Aber, auch bedingt durch meinen Job, komme ich selbst häufiger zu spät. Wie kann ich da glaubwürdig sein?

Ich habe das große Glück, dass unsere Unterrichtstage mit einer halben Stunde „Beratung“ beginnen. Weil wir den organisatorischen Teil – Fehlzeiten, Tagesplanung – rasch und diszipliniert abwickeln, schauen wir oft die ‚Tagesschau in 100 Sekunden‘ und haben anschließend noch Zeit, über das Gesehene zu diskutieren – was sich in meiner kreisförmigen Sitzordnung ohne Lehrerpult besonders gut durchführen lässt.

Mit meiner 6. Klasse spreche und diskutiere ich über die Streiks der GDL, über Cannabis-Legalisierung, ein AFD-Verbot. Und über den Konflikt in Israel. Als besonders wirksam empfinde ich Gespräche, die offen bleiben: Einerseits. Andererseits. In einer meiner Lieblings-Star-Trek Episoden geht es u.a. um einen Planeten, bei dem alle Bewohner mit 60 Jahren ein Abschiedsfest feiern und dann, weil sie alt sind und mehr Ressourcen verbrauchen als erbringen, Suizid begehen. Was für ein Diskussionsanlass!
Meine Klasse lernt zu verstehen, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist. Dass ein „Ja“ an der einen immer auch ein „Nein“ an der anderen Stelle bedeutet. Diesen Zustand auszuhalten fällt vielen Menschen schwer.

Wenn wir über politische Parteien sprechen, fragen mich die Kinder manchmal, welche Partei ich denn wählen würde.
Und jedesmal erkläre ich, dass meine eigene Position gar nicht so wichtig sei: Politik sei eine Art Wettbewerb der Ideen, der Gewichtungen und die Aufgabe der Politiker sei, miteinander zu ringen und den bestmöglichen Kompromiss für das Land und seine Bürger zu finden. Das ist einfach ungemein spannend, weil die Welt so unglaublich komplex ist (und darum liebe ich Kommunalpolitik so!).

Antifaschistische Politik bedeutet für mich auch ein Verständnis dafür zu erlangen, dass es keine einfachen Antworten in einer komplexen Welt gibt. „Ausländer raus.“ Ja, und dann? Und wer genau? Was wären die Konsequenzen?

Ich ahne, dass mein Unterricht für viele Kinder oft anstrengend ist: Ich stelle schwierige Fragen und um sie beantworten zu können, muss man sehr, sehr viel wissen.

Wie man den subjonctif im Französischen bildet, kann man später nachschlagen. Wie fest man eine Radmutter anziehen darf, bevor sie reisst, lernt man durch Erfahrung.
Aber wir brauchen junge Erwachsene, die bei „Französisch“ nicht nur an den wöchentlichen Vokabeltest denken, sondern an ein Land, eine Kultur, eine Sprache dahinter. Die bei einer zerstörten Radmutter nicht „Danke, Merkel“ schimpfen, sondern die Verantwortung bei sich selbst suchen.

Politik in der Schule bedeutet für mich, das große Ganze zu sehen. Zu erkennen, dass man – genau wie in den Naturwissenschaften – immer weniger Ahnung hat, je mehr man sich mit etwas beschäftigt.

Und das auszuhalten.

Davon hätte ich gerne mehr. Viel, viel mehr!

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