(Heute mal ein paar wütende Worte, neudeutsch “rant”.)
Schulforscher der Universitäten Dortmund und Jena haben im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung einen Chancenspiegel erstellt und unter anderem untersucht, welche Korrelation zwischen (sozialer) Herkunft und Schulerfolg besteht. Ergebnis laut Armin Himmelrath von SPIEGEL ONLINE:
Wer aus einem benachteiligten Umfeld kommt, braucht in deutschen Klassenzimmern nicht auf Fairness und Chancengerechtigkeit zu hoffen.
Fairness? Chancengerechtigkeit? Hoffen?
Damit behauptet Himmelrath, wir Lehrer würden unsere Schüler in der Masse unfair und ungerecht behandeln. Und es klingt, als würden sie auf deren Gnade hoffen müssen. Das empfinde ich als frech. Ziemlich frech sogar.
Wir können uns gerne über die Auswirkungen der sozialen Herkunft auf Verhalten, Vorwissen, Ausdrucksweise, Leistungsbereitschaft oder Frustrationsgrenze unterhalten. Wir können uns Gedanken machen, welchen Einfluss der Freundeskreis und deren Bildungsgrad und der der Eltern auf die Persönlichkeit und das Werteempfinden eines Kinders hat.
Natürlich hat Zahnarztkind Erik es in Englisch und Mathematik leichter, als der vom Krieg geflohene Anton, dessen Eltern kein Wort Deutsch sprechen. Und ein Kind, das mit Haus und Garten aufwächst, lernt womöglich eher Konfliktmanagement, als jemand, der in einer Hochhaussiedlung mit hoher Kriminalitätsrate groß wird.
Das hat aber, Entschuldigung, nichts mit unfairen Lehrern zu tun: Das verdammte Leben ist nicht fair. Es ist nicht fair, dass die einen Kinder mit liebevollen Eltern aufwachsen und die anderen totgeprügelt werden. Es ist nicht fair, dass sich manche Schüler teure Handys leisten können und andere nicht das Geld fürs Mittagessen haben. Es ist nicht fair, dass einige zu Hause vorgelesen bekommen und andere ihre Nachmittage vor Youtube verbringen, weil es kein einziges Buch in der Wohnung gibt.
Unser Bildungssystem versagt nicht, ganz im Gegenteil.
Der Grund für den hohen Einfluss der sozialen Herkunft auf den Schulerfolg ist eben genau dieser: Susann-Henriette schlägt ihre Nachmittage halt nicht mit fünf Stunden PlayStation und RTL2 tot, sondern mit Klavier und Hausaufgaben unter den strengen Blicken ihrer Eltern.
Die Schulen stemmen sich mit allem was möglich ist gegen diesen Trend und schieben auch die größte Schnarchnase noch irgendwie zu einem Abschluss – aber es nervt mich, dass SPIEGEL ONLINE einmal mehr auf die Schulen schimpft, statt die wirklich wichtigen Fragen zu stellen:
Wir müssen uns nicht über das Bildungssystem unterhalten1, sondern über Perspektiven und Ängste. Über familiäre Strukturen. Über die ekelhafte, unterschwellige Ausländerfeindlichkeit einiger Parteien und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft. Darüber, ob das “Betreuungsgeld” bildungsferne Kinder nicht noch weiter von der Kita abhält und damit den Einfluss der sozialen Herkunft noch verstärkt.
Das sind die entscheidenden Fragen hier.
1: Natürlich unbedingt trotzdem: Aber nicht vor dem Hintergrund, dass meine Schüler nicht auf “Fairness hoffen brauchen”. Aber zum Beispiel darüber, ob die Milliarden Euro, die wir in den letzten Jahren für Schulbücher ausgegeben haben, nicht sinnvoller angelegt werden könnten – in #OER zum Beispiel.
So ist es. Natürlich möchte ich auch dem Mädchen, dessen Vorname auszusprechen mir schwerfällt, und dessen Mutter eine andere Kopfbedeckung trägt als ich helfen. Ich akzeptiere dann auch sprachlich grenzwertige Antworten der Art „der Punkt ist auf dem Lösungsystem in der Gleichung“ während ich von Susann-Henriette einen korrekteren Gebrauch der Fachsprache verlange. Manche Kinder brauchen Zeit und wenn ich sie habe gebe ich sie ihnen. Ich und meine Kollegen sprechen ihnen mindestens 30h/Woche korrektes Deutsch vor. Das kann man sich anhören, einprägen und übernehmen.
Das Mädchen scheitert weder an meinem Unterricht noch in meinem Unterricht noch an mir, sondern daran, was sie Nachmittags macht oder nicht macht. Und Spiegel Online habe ich heute schon überlegt aus meinen Abo zu löschen. Wenn der Rest der Berichte genauso schlecht recherchiert und überdacht ist, dann ist es wohl Zeitverschwendung den Kram zu lesen.
LG
Coreli
Danke fürs Aussprechen!
Wer Lehrer ist, braucht in so manchem Artikel von Spiegel Online anscheinend nicht auf Fairness und sorgfältige Recherche zu hoffen …
Tun wird bei Spiegel Online doch. Ich rufe die Startseite auf, folgende Themen: CIA-Folter, Krieg gegen IS-Terroristen, Terrorangriff auf Schule in Kabul, US-Navy testet Laserkanone, Bewaffnete Bundeswehrsoldaten im Irak, Wichtiger IS-Propagandist bei Twitter enttarnt, Sturmtief Alexandra, Versagen des Bildungssystems, Kalifornien erlebt schlimmste Dürre der letzten 1200 Jahre, Mädchen-Tötung in Indien, Die Schickeria lässt die Sau raus.
Das war’s fast vollständig, oberste 15% der Startseite.
Spiegel Online und BILD sind sich sehr ähnlich geworden. Ich denke, man übertreibt nicht, wenn man beide gleichermaßen in die Kategorie „Boulevard“ einsortiert. (Erstaunlicherweise lesen alle Akademiker, die man so kennt, Spiegel Online.)
Klar – große Online-Magazine brauchen Klicks. Wenn die Vision fehlt, spielt man deshalb mit Ängsten und schürt sie. Man gibt den Leuten Brocken, auf die sie sich stürzen können. „Die Schule“, „die Lehrer sind schuld“ ist da natürlich immer passend. Um die Tirade abzuschließen: Überlege dir, wem du deine Zeit schenkst. Es gibt wesentlich konstruktivere Medien (bspw. Telepolis u.v.m.).
Das deutsche Schulsystem IST an vielen Stellen *pfui*. Dennoch bringst du es genau auf den Punkt:
Weil du mir oft Alternativen zu eingefahrene Meinungen aufzeigst, verbringe ich meine Zeit lieber hier als bei der IS-Schickeria-die-34-Jahre-lang-schwieg bei Spiegel Online. Danke für diese Alternative.
Ein Grund mehr sich von Print- und Onlinemedien aus dem Hause SPIEGEL fernzuhalten…
Sehr schöner Artikel – spricht mir aus der Seele.
@Lehrerfreund: Ich lese „Spiegel Online“ fast gar nicht, nur auf dringende Verlinkung bei Twitter, und bin regelmäßig enttäuscht. Also … vielleicht liegt es daran, dass man als Lehrer nicht so richtig zu den Akademikern zählt … Oder man kennt mich eben nicht 😉
Es gibt eine schöne Stellungnahme des Verbandes Lehrer NRW dazu:
http://www.news4teachers.de/2014/12/lehrer-nrw-kritisiert-chancenspiegel-steilvorlagen-fuer-rot-gruene-schulpolitik/
Die Studie an sich ist einfach schon absurd. Und man muss einfach mal kritisch anmerken, dass die Bertelsmann Stiftung zu einem guten Teil dazu dient, der Bertelsmann AG Aufträge zu verschaffen: „“Bildung wollen wir schrittweise zur dritten Ertragssäule neben Medieninhalten und Services ausbauen.“ (Vorstellung Geschäftsbericht 26.3.2014).“
Ja, der Einmischung der Firma Bertelsmann in das Schulsystem stehe ich auch kritisch gegenüber.
Mindestens genauso unerträglich wie die Bosch-Stiftung. Ich hatte mal einen Kurs an der Uni, der sich damit beschäftigen sollte, was man von sogenanntem guten Schulen lernen könne.
„Gute Schulen“ das war das, was den deutschen Schulpreis bekommen hatte: Ausnahmslos Schulen, die durch ihre alternativen Ausrichtungen ohnehin schon aus anderen Töpfen finanziert werden als die öffentlichen Schulen. Die konnten sich die bessere Betreuung ihrer Schüler einfach leisten.
Man sollte mal darüber nachdenken, dass diejenigen, die etwas Wissenschaftliches herausfinden sollen, ja dafür bezahlt werden, DASS sie etwas herausfinden und unsere in der Wissenschaft staatlichen und damit zweckungebundenen Mittel knapp sind, so dass ich als auf Forschungsgelder angewiesener Wissenschaftler natürlich dafür sorge, dass meine neue Geldquelle nicht versiegt.
Herr Klinge,
Sie haben einfach nur Recht. Lebensvorbilder, Anregungen, Visionen für ihr eigenes Leben finden die wenigsten Kinder in der Schule, die suchen sie sich zu Hause und in ihrem Freundeskreis, im Lebensumfeld. Erst wenn Schule nicht nur Unterricht, sondern Lebensumfeld bietet, kann das anders sein – das kann Schule aber in Deutschland nicht leisten. Abgesehen davon kommen in den meisten Schulen Kinder zusammen, die sehr, sehr heterogen sind. In ihrer Herkunft, ihrer Geschichte, ihrer Vorbildung, ihren Chancen. Die werden zu Hause geschaffen, nicht in der Schule.
Ich habe eigentlich immer an Chancengleichheit geglaubt, da ich selber das Glück hatte, dies am Gymnasium so zu erleben – Aida machte genauso Abitur wie Magdalena und Gioia, es gab einfach keine Unterschiede. Ob man nach dem Unterricht ins schuleigene Internat verschwand, von Mama im Benz abgeholt wurde oder mit dem Bus nach Hause fuhr und erstmal Stall ausmisten musste, war egal. Bei meiner Tochter sehe ich nun, dass es zumindest im Grundschulbereich anders läuft. Wir haben gerade nicht nur einen Schulwechsel hinter uns, sondern sind auf einen anderen Kontinent gezogen. Vorher: Sehr kleine Stadtteilschule, nicht ganz Ghetto, aber auch nicht so richtig viele Akademikerkinder. Gute Mischung, gute Mitte, bemühte Lehrkräfte. Schule war okay, hat nicht so viel Spaß gemacht, aber war halt da. Das Leben fand nachmittags auf der Straße, auf dem Spielplatz, im Schwimmbad statt. Jetzt: Deutsche Auslandsschule, fast nur Akademikerkinder, größere Klassen, motivierte Lehrkräfte und Programm verpflichtend bis 15.00 Uhr jeden Nachmittag, danach noch Freizeit an der Schule. Es ist wie eine andere Welt. Das ist keine Schule, das ist ein eigenes Leben, das die Kinder in den Bann schlägt, das sie Schule als Lebensmittelpunkt, Spaß und ganzes Universum für sich erleben lässt. Meine Tochter sagt neuerdings, dass es egal ist, ob Wochenende oder wochentags ist – Schule ist Spaß mit Freunden und Lehrern, Wochenende ist Spaß mit Freunden, Lehrern und Familie. Denn am Wochenende ist die Schule mit Sportanlagen, Bücherei, Spieleraum et cetera für alle offen und wird auch tatsächlich genutzt. Für mich ist das eine völlig neue Erfahrung, und ja: Es macht tatsächlich einen Unterschied, woher die Kinder kommen und wie sie in der Schule ankommen. Unglaublich.
Spiegel online liest hier übrigens keiner. Ist zu beschränkt. Umgekehrt hat die Spiegel Redaktion vermutlich noch nie von dieser Schule gehört. Möge es so bleiben! Die Elternschaft findet übrigens auch hier immer noch etwas zu meckern.
Vielleicht sollte man Schule nicht mehr als kostenlose Lehranstalt begreifen, sondern als wertvollen Lebensraum für unsere Kinder. Und die Schulen entsprechend ausstatten, behandeln und im Bewusstsein verankern.
Es grüßt vom anderen Ende der Welt
M. B. Weber
Das Gymnasium ist bei uns ohne häusliche Nacharbeit und Vorbereitung nicht befriedigend zu schaffen – und Samira und andere Kinder, die zuause kein Deutsch hören, haben dabei niemanden, der sie so unterstützen kann, wie ich zum Beispiel meinem Kind helfen kann. Das könnte man tatsächlich als ungerecht begreifen. Deshalb gibt es jeden Tag bei uns eine Hausaufgabenbetreung – kostenlos für die Eltern, von Lehrern geleitet.
Die soziale Kopplung spielt ansonsten hier auf dem Land kaum eine Rolle, weil wir sowieso kaum Akademikerkinder unterrichten. Lisa mit Hartz-IV-Eltern macht genauso Abitur wie Sascha mit Hausbaufirmeninhabereltern – wenn Sascha und Lisa intellektuell unseren Anforderungen gewachsen sind. Aber Sascha hat es leichter, denn seine Eltern leisten sich seit der siebenten Klasse Nachhilfe in Mathe und im Sommer fährt er nach England. Das könnte man als ungerecht empfinden.
Aber selbst wenn alle Kinder bis zum Abend in der Schule wären, was ist dann in den Ferien? Wer finanziert jedem Kind sein persönliches Austauschjahr? Was wäre dann mit Elternrechten?
Dieses Mal muss ich wohl in die gleiche Kerbe hauen, wie die Schreiber zuvor.
Kinder, die einen gewissen Rückhalt im Elternhaus erfahren – ob mit Nachhilfe oder einem Elternteil, der sich einfach „kümmert“ and der Seite – haben höhere Chancen, als die, bei denen Gleichgültigkeit den Alltag prägt.
Aber auch die Eltern müssen nicht die ganze Last tragen.
Wer seinen Arsch hochbekommt, wird mehr schaffen, als diejenigen, die einfach keine Lust haben. Wer intellektuell minderbemittelt ist, hat einen Nachteil gegenüber den Schlauköppen.
Die Schule kann dumm Kinder nicht per Federstrich intelligent machen und faule Säcke nicht zu fleißigen Bienen.
Wenn eine Atmosphäre geschaffen wird, in der Lernen Spaß macht und der Schüler an sich gefordert und ernstgenommen wird, dann ist eigenlich schon alles gemacht, was nötig tut.
Ich sehe Chancenungleichheit an einem ganz anderen Punkt. In meiner Schulzeit war Schule langweiliger als heute. Wir bekamen Regeln erklärt, wurden mit Beispielen gefüttert und hatten als Hausaufgabe größere Mengen weiterer Beispiele nach dem eingeübten Muster abzuarbeiten. Langweilig für die guten Kinder, nützlich fürs Mittelfeld, der Rest brauchte Hilfe und bekam die nicht unbedingt.
Heute geht es um Selbstorganisation und vielfältige Ansätze. Nicht die Fakten stehen im Vordergrund, sondern die Methoden. Für einen erheblichen Teil der Kinder viel zu früh wird in hohem Maße abstraktes Denken eingefordert, Strukturierungsfähigkeit und intrinsische Motivation.
Mit dem Erfolg, dass in meinem durchweg akademischen Umfeld die meisten Eltern erheblich viel Zeit damit zubringen, zu verstehen zu versuchen, was ihre Kinder da gerade machen sollen und es dann diesen zu vermitteln. Höhepunkte wie die Anforderung, in der 4. Klasse eigenständig Referat und Präsentation zu einem selbstgewählten Thema zu erstellen, mal außen vorgelassen.
Was passiert also? Für die guten Kinder ist es interessant. Das Mittelfeld braucht massive Unterstützung (eine befreundete Grundschullehrerin erklärte mir neulich, dass 1/2 ihrer Erstklässler Nachhilfestunden besuche und fand das selbstverständlich) – bekommt die je nach Elternhaus und/oder Geldbeutel oder eben auch nicht, der Rest geht unter.
Natürlich gibt es Perlen von Lehrern, bei denen es auch ohne Unterstützung funktioniert. Und Kinder, die das einfach können. Aber Schule muss doch auch mit den durchschnittlichen Lehrern und Schülern funktionieren!
Volle Zustimmung.
Darum arbeite ich u.a. so gern mit Lerntheken.
Sehr unterhaltsamer Schul-Rant!
Beste Grüße