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Klimapolitik im großen Maßstab.

Via Twitter bin ich auf einen spannenden Kommentar gestossen, der zum einen mein klimapolitisches Weltbild erweitert und gleichzeitig meinen Ärger auf die hiesige Politik erhöht hat. Weil Twitter seit einigen Wochen für Nicht-User abgesperrt ist, habe ich die freundliche Genehmigung des Autors, einen Thread hier einzubinden. Warnung: Dieser Artikel ist ziemlich lang.

Wir kämpfen in Deutschland gegen den Buhmann (oder die Buhtransfrau)

Fangen wir an mit Verkehrsminister Volker Wissing. Jener Minister, der neulich unter einem kleinen Solardach stand, dass ein Projekt zur solarüberdachten Autobahn anstossen sollte. Bloss, dass das Dach gar nicht über einer Autobahn stand. Und klein war. Sehr klein. Dieser Minister hat jetzt in einem Interview gesagt, er sei „immer wieder erstaunt, dass so leichtfertig gesagt werde, das Auto sei überflüssig“ (Quelle).

Natürlich sagt niemand so etwas leichtfertig – schon gar nicht so viele, dass ein Verkehrsminister „immer wieder“ erstaunt wäre. Was Wissing hier macht, nennt man ein „Strohmann-Argument“. Er behauptet einfach irgendwelche Dinge und nimmt dann unter breiter Zustimmung dagegen Haltung ein. „Jaja, was ein Quatsch! Toll, dass unser Minister da so klar ist!“

Noch mehr als solche Schwafelei ärgert mich aber „Journalismus“ (man denke sich die Anführungszeichen!), der solcherlei ausgedachte Argumente einfach stehen lässt. Und das bei jemandem, der allen Ernstes behauptet hat, es gäbe zu wenig Schilder, um ein Tempolimit in Deutschland umzusetzen (Quelle).
Also bitte – das ist doch für jeden Journalisten ein Heimspiel. Kleine Nebenbemerkung: Wenn mich etwas „immer wieder“ erstaunt, werde ich nachdenklich.

Wissing ist nur ein aktuelles Beispiel. Es finden sich dergestallt viele mehr: Fleischverbot. Genderzwang. Alles erfundene Nebenschauplätze, deren einziges Ziel ist, möglichst viel Empörung zu erzeugen.

Oder: Linnemann fordert aus aktuellen Gründen Schnellverfahren für Schläger im Freibad (Quelle).
Wieder so eine ABlenkungsdebatte. Völliger Quatsch! (Quelle)

  1. Für Täter unter 18 (und solche befinden sich ja tendenziell im Freibad) gilt: keine beschleunigten Verfahren, § 79 Abs. 2 JGG
  2. beschleunigte Verfahren am Wochenende sind vielleicht mit grooooooßem personellen Aufwand möglich, nicht aber an kleineren Amtsgerichten § 127b StPO
  3. beschleunigte Verfahren setzen eine klare Beweislage voraus: Exakt das Gegenteil einer Massenkeilerei im Schwimmbad – zumal wenn viele Beteiligte in Badehose herumlaufen und dadurch leicht verwechselt werden
  4. Strafjustiz ist eine knappe Ressource: Oft genug ziehen sich Verhandlungen über Jahre hin, weil Polizei, StA und/oder Gericht es nicht früher geschafft haben – oft auch bei gravierenden Tatvorwürfen. Ich selbst war vor einigen Jahren als Zeuge einer schweren Körperverletzung im Abstand von mehreren Jahren immer wieder vor Gericht geladen – bis schließlich sowohl Opfer als auch Täter noch vor dem Urteilsspruch verstorben waren.

Wenn wir Verfahren, in denen es um schwerwiegende Gewalt- oder Sexualdelikte geht, erst mit monate- oder jahrelanger Verzögerung behandeln, klingt die Forderung, ausgerechnet Freibadprügeleien mit aller Härte des Gesetzes noch am Tattag abzuurteilen, wie blanker Hohn.

Aber es zieht Klicks, es regt auf und lenkt ab. Von wesentlichen Problemen.

2012: Altmaier (CDU) freut sich – Einbruch bei der Photovoltaik

Klimapolitik im großen Maßstab. 1Ein Zitat aus 2012: „Bundesumweltminister Peter Altmaier sieht erste Erfolge bei dem Versuch, Zusatzkosten durch einen zu schnellen Ausbau erneuerbarer Energien zu vermeiden. Der Bau neuer Solaranlagen sei im Juli auf eine Leistung von 540 Megawatt und im August auf 320 Megawatt zurückgegangen, sagte der CDU-Politiker.“ (Quelle)

Bis 2012 war Deutschland führend (!) im Bereich Solartechnik. Nirgendwo auf der Welt ging das so schnell, wie bei uns. Bis 2012. (Quelle)

2023 – China rennt der Welt davon

Die Fortschritte, die China im Bereich der erneuerbaren Energien allein in diesem Jahr gemacht hat, lassen den gesamten Rest der Welt wie einen Stillstand erscheinen. Selbst die westliche Presse hält das Klimaziel der Volksrepublik China für äußerst wichtig, um eine globale Katastrophe zu verhindern. Es wurde geschätzt, dass die prognostizierte Temperatur der Klimaerwärmung allein durch die chinesischen Maßnahmen um 0,3 Grad Celsius gesenkt wird, der größte Rückgang, der jemals von Klimamodellen berechnet wurde. (Quelle: Did Xi just save the world?)
Klimawissenschaftliche Gruppen bezeichneten dies als die „wichtigste Ankündigung zur globalen Klimapolitik in mindestens den letzten fünf Jahren“ (Quelle).

Von 2020 bis 2022 hat China jedes Jahr etwa 140 GW an neuen Kapazitäten für erneuerbare Energien installiert, mehr als die USA, die EU und Indien zusammen. Ein Gigawatt reicht etwa aus, um 750.000 Haushalte mit Strom zu versorgen. Damit hat sich die Photovoltaik hat sich zunehmend zur wichtigsten neuen Technologie entwickelt, gefolgt von der Windkraft.

Klimapolitik im großen Maßstab. 2

Im Dezember erfolgte der erste Spatenstich für das weltweit größte Wüstenprojekt für erneuerbare Energien in der Inneren Mongolei. Die IEA schätzte, dass China im Jahr 2023 eine neue Solarkapazität von 80 GW aufbauen würde; im Februar prognostizierte die China Photovoltaic Industry Association ein Ergebnis zwischen 95 GW und 120 GW. (Quelle)
Beide sind bereits falsch. In den ersten vier Monaten des Jahres 2023 wurde fast dreimal so viel neue Solarkapazität installiert wie im gleichen Zeitraum des Jahres 2022. Chinas neue Solarkapazität, die in diesem Jahr installiert wird, wird die gesamte totale in den USA übersteigen. Im Mai sagte der Vorsitzende von Tongwei Solar voraus, dass die Neuinstallationen bis 2024 auf 200 bis 300 Gigawatt sinken könnten – fast das zweifache der derzeitigen US-Gesamtleistung. (Quelle)

Natürlich stellt China mehr Solarmodule her als der Rest der Welt zusammen – 2021 wurden über 80 % aller Produktionsstufen der Photovoltaik in China hergestellt -, aber nur eine Minderheit davon wird IN China installiert, das nur 36 % der weltweiten Nachfrage verzeichnete.
Stattdessen landen sie an Orten wie Jujuy, Argentinien, wo die örtliche Regierung, die von US-amerikanischen und europäischen Investoren abgewiesen wurde, sich an China wandte, um eine Finanzierung für den Bau eines 300-Megawatt-Solarparks zu erhalten. Laut Reuters sollte die Anlage bis 2019 in Betrieb genommen werden. (Quelle)

Auch der Wind bläst in China schneller

China ist nicht nur bei der Solarenergie gut aufgestellt. Im Jahr 2021 hat China in einem Jahr mehr Offshore-Windkapazitäten installiert als der Rest der Welt zusammen in den vergangenen fünf Jahren. Im Januar 2022 betrieb China die Hälfte aller Offshore-Windturbinen der Welt. (Quelle)
Einem Bericht von Global Energy Monitor vom Juni zufolge ist China derzeit auf dem besten Weg, seine gesamte Kapazität an erneuerbaren Energien bis 2025 zu verdoppeln – fünf Jahre früher als das ursprüngliche Zieldatum der Regierung von 2030.

Energie ist jedoch nur ein Aspekt der Klimalösung; China ist auch in vielen anderen Aspekten mit Abstand weltweit führend. Seit 1980 hat China seine Waldfläche verdoppelt und mehr neue Bäume gepflanzt als der Rest der Welt zusammen. Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat China zwischen 2010 und 2020 eine durchschnittliche jährliche Nettozunahme der Waldfläche von fast 2 Millionen Hektar zu verzeichnen, mehr als viermal so viel wie Australien (die zweitgrößte Waldfläche) und fast 20-mal so viel wie die der Vereinigten Staaten. (Quelle)
Für das Jahr 2021 hat die Regierung ein neues Aufforstungsziel von 36.000 Quadratkilometern pro Jahr festgelegt – das sind 3,6 Millionen Hektar, fast doppelt so viel wie bisher, oder genug neue Bäume, um die Landfläche von Belgien zu bedecken. Pro Jahr, wohlgemerkt!

Chinas Umstellung auf eine umweltfreundliche Wirtschaft geht nicht nur schnell vonstatten, sondern beschleunigt sich weiter. In den letzten Jahren hat sich ein Muster herausgebildet: Die Regierung setzt sich ein ehrgeiziges Umweltziel und erreicht es dann viel früher als erwartet.
Kein anderes Land zwingt China dazu, die Welt bei der Umstellung auf eine nachhaltige Wirtschaft anzuführen – die Regierung der Vereinigten Staaten hat sogar versucht, dies zu verhindern, indem sie beispielsweise Sanktionen gegen die chinesische Photovoltaik-Produktion verhängt hat.

E-Autos: In Deutschland verlacht, in China weit vorne

Ein weiteres Beispiel: Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, dass bis 2025 20 % aller Neuwagenverkäufe auf Elektrofahrzeuge entfallen sollen. Von 2016-2018 stieg der Absatz von Elektrofahrzeugen in China von 1 % auf 5 %. Sie erreichten 2022 das anvisierte Ziel von 20 % – drei Jahre früher als geplant. (Die USA erreichten 2022 schließlich 5 %.) (Quelle)

Heute produziert China mehr E-Fahrzeuge als der Rest der Welt zusammen. Dies erforderte ein starkes staatliches Eingreifen: Pilotprogramme, Subventionen, staatliche Beschaffung usw. Ab 2022 werden 98 % aller Elektrobusse der Welt in chinesischen Städten eingesetzt (Quelle).

Wollen wir über Deutschland sprechen? Schildermangel?
Es erinnert mich an das Ergebnis einer schulischen Projektwoche, wenn Volker Wissing über „Autobahn-Solardächer“ spricht und dies vor einem Pilotprojekt, dass kleiner ist, als ein SupermarktParkplatz. Und das Dach dann auch nicht über einer Autobahn steht, sondern einer Abfahrtsstraße. Da wäre einfach mehr drin gewesen.

Auch in China ist nicht alles Kohl cool.

Chinas Emissionen stammen hauptsächlich aus der Kohle. Doch chinesische Kohlekraftwerke unterscheiden sich deutlich von westlichen Anlagen.

Chinesische Kohlekraftwerke haben mit einem Wirkungsgrad von fast 50 % den Weltrekord aufgestellt, während der Wirkungsgrad eines typischen australischen Kraftwerks bei 30 % liegt. Im Jahr 2017 berichtete das Center for American Progress, dass Chinas Kohlesektor einen „massiven Wandel“ mit neuer Technologie durchläuft – es wird weniger Kohle verbraucht, weniger Kohlenstoff ausgestoßen und mehr Strom produziert als in den modernsten US-Kraftwerken. Die Maßnahmen der Volksrepublik China zur Luftreinhaltung haben nicht nur die Luftverschmutzung zwischen 2013 und 2020 fast halbiert, sondern auch einen weltweiten Rückgang der Luftverschmutzung bewirkt.
Darüber hinaus: Verstöße gegen die chinesische Umweltpolitik können empfindliche Strafen nach sich ziehen. Im März 2021 wurden vier große Stahlwerke in Hebei dabei erwischt, wie sie Aufzeichnungen fälschten, um die Grenzwerte für Kohlenstoffemissionen zu umgehen; im Jahr darauf wurden Dutzende der verantwortlichen Führungskräfte zu Haftstrafen verurteilt.

Im Gegensatz dazu verbrachte niemand von BP auch nur einen Tag im Gefängnis, obwohl bei der Deepwater-Horizon-Katastrophe mehrere Arbeiter ums Leben kamen und es sich um die größte Ölpest in der Geschichte handelte. Und meines Wissens ist Norfolk Southern wegen des Zugunglücks in East Palestine im Februar auch nicht strafrechtlich belangt worden.

Fazit

Wir vergeuden kostbare Zeit, wenn wir uns weiter in Scheindebatten über Gendern, Vegetarismus oder „was hat xy von der Partei XY jetzt wieder rausgehauen“ verlieren.

Und obwohl ich mich über vertane Chancen in Deutschland ärgere und denke, dass wir es besser, viel besser könnten, freue ich mich über diese Entwicklung in China. Bei allen klimapolitischen Hiobsbotschaften gibt es offenbar auch Länder, die hier massiv voranschreiten. Wir sollten das abgucken, nachmachen, kopieren, verbessern.

Und das nehme ich mir für heute mit.

2 Gedanken zu „Klimapolitik im großen Maßstab.“

  1. Das ist auch bitter nötig, der *pro Kopf* CO2 Ausstoß war 2021 8t in China, und 6,3t in der EU. Und in China werden noch immer 100 Kohlekraftwerke pro Jahr neu genehmigt.

    Die Energiewende war einer der Hauptfinanzierer, um Solarzellen erschwinglich zu machen, sie haben die Massenproduktion angestoßen. Inzwischen sind die Preise ja massive gefallen, in den letzten 10 Jahren um den Faktor 4, auf etwa 25 Cent pro peak Watt.

    Der Ausbau stockt aktuell weil wir inzwischen genug Leistung haben, um an guten Tagen 90% des Stroms aus Erneuerbaren zu gewinnen. Pro Tag verbrauchen wir etwas mehr als 1 TWh. Akkus, die dies speichern könnten, würden 100 Mrd kosten, und müssten dann auch noch alle 4 Jahre erneuert werden, wobei diese massive Nachfrage vermutlich die Preise steigen lässt.

    Übrigens sind 50% Effizienz für Kohlekraftwerke nichts besonderes, in Hamburg wurde für 1 Mrd eins mit 60% gebaut, und dann noch vor der Inbetriebnahme wieder eingemottet.

    Dank Atomausstieg wird Deutschland 1 Mrd unnötige Tonnen CO2 in die Atmosphäre pusten. Dass niemand darüber spricht, zeigt doch, wie spinnert das deutsche Verhältnis zum Klima ist. Luxusglauben anstelle von Realitätsdenken.

    1. Ach, bitte. Deutschland könnte massiv Ressourcen einsparen, indem einige Fridays-Forderungen umgesetzt würden – ohne, dass es jemandem weh täte, auch wenn Springer & Co anderes behaupten. Atomenergie ist keine sichere Lösung für irgendwas, wie zuletzt der Unfall mit einem undichten Fass (aus potentiell Gronau) in Russland zeigte. Überdies ist Atomkraft nur deshalb so „billig“, weil die Kosten vergesellschaftet werden, und zwar in die Zukunft hinein. Oder glauben Sie ernsthaft, die 100 Milliarden, die die AKW-Betreiber beiseitegelegt haben, reichen für einen dauerhaften, sicheren Endlagerbetrieb? Als Historiker, der weiß, wie fragil die Quellenlage schon nach wenigen Jahrhunderten sein kann, finde ich die Idee schlicht lächerlich. Im Übrigen ist Atomkraft mit mehreren hundert Milliarden Euro subventioniert worden (und mit Haftungsausschlüssen).

      Und, letzter Punkt: Der Pro-Kopf-Ausstoß von CO2 in China ist deshalb so hoch, weil China unsere „Werkbank“ ist und da der Großteil von Produkten, die bei uns konsumiert werden, produziert werden. Wenn man die CO2-Emissionen auf den Konsumenten umlegte, fiele die Rechnung ganz anders aus – und wenn man die historischen Emissionen seit 1750 anschaut, liegen wir Industriestaaten immer noch weit vor China. (https://amp.dw.com/de/faktencheck-china-verantwortung-schuld-klimawandel-co2-ausstoß/a-57832748)
      Also, bitte keine billigen Ablenkungsmanöver a la CDU 😉

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