Zum Inhalt springen

Ich würde gerne auf Klassenfahrten verzichten.

Ich bin zurück von einer Klassenfahrt mit meiner 7 und einer Parallelklasse an die Ostsee. Zwei Punkte möchte ich voranstellen:

  1. Es war wirklich, wirklich gut.
  2. Ich kann Klassenfahrten nicht leiden.

Klassenfahrt nach Usedom

Montag früh ging es los. Von Siegen ist Usedom zwischen 10 und 12 Stunden mit dem Bus entfernt. Ganz schön lange Strecke, um mit über 50 Kindern und fünf Lehrkräften auf engstem Raum eingesperrt zu sein.

Besucht haben wir die Tauchglocke, mit der wir auf den Grund der Ostsee getaucht sind, nachmittags dann eine Wanderung zur Südspitze von Usedom und dort an einen wunderbaren Badestrand (komoot sei Dank!).

Am nächsten Tag ins Meeresmuseum und anschließend an den Strand. Bei bestem Wetter und 30° haben die Kinder in der Ostsee geplanscht und – wir hatten wirklich Glück – ein Streetworker hatte eine Ladung Stand-Up-Paddles und sprach uns direkt an: Ob unsere Kinder nicht Lust hätten, das mal auszuprobieren.

Hatten sie! Und es war mega!

Donnerstag sind wir in die Phänomenta mit zillionen Experimenten und nachmittags mit einem Schiff zu den Robbenbänken. Der gut gelaunte Kapitän fragte, ob die Kinder Lust auf richtigen Seegang hätten – und natürlich hatten sie. Also stellte er das Schiff eine Weile quer in die Wellen und unsere Schüler*innen jubelten und krakelten und freuten sich.

Freitag ging es dann zurück – 12 Stunden mit dem Bus und glücklichen und müden und gleichzeitig aufgedrehten Kindern. Zwischen zwanzig- und dreißigtausend Schritten sind die Jungen und Mädchen jeden Tag gelaufen.

Ich kann Klassenfahrten nicht leiden

Die Klassenfahrt beginnt nicht erst am Montag, sondern weit vorher. Angebote einholen, mit den Eltern einen Preis ausmachen. Konto bereitstellen, Geld einsammeln. Ans Geld erinnern. Nochmal ans Geld erinnern. Ausflugsziele bestimmen. Mit den Kindern eine Handyregelung erarbeiten.

11 Stunden Busfahrt heißt auch: 11 Stunden gegen Müllberge, Chipskrümel und ausgelaufene Cola ankämpfen. Wer mit seinen eigenen Kindern schonmal in Urlaub gefahren ist („Ich muss Pipi“ „Wann sind wir da?“) kann sich ausmalen, wie es ist, mit fünfzig Kindern in Urlaub zu fahren.

Eine Woche lang müssen Lehrer rund um die Uhr „Gefängniswärter“ spielen: Tu dies nicht, tu das nicht.

Was passiert, man dieser Aufgabe nicht nachkommt, erzählt mir der Platzbetreiber bei Gelegenheit: Alkoholpartys bis tief in die Nacht, herausgerissene Waschbecken, eingetretene Toiletten und so viel Lärm, dass schließlich die Polizei anrücken muss.

Permanente Achtsamkeit ist anstrengend. Denn natürlich wollen die Kinder Spaß haben. Natürlich ist es aufregend, mit Freunden in einem eigenen Bungalow zu schlafen. Natürlich ist es ein Nervenkitzel, sich nachts in andere Hütten zu schleichen.

Ich verstehe das alles – aber wo ist die Grenze?
„Komm, wir gehen beim Mondlicht schwimmen?“ „Komm wir knutschen heimlich im Wald?“ „Flaschendrehen?“ „Wahrheit oder Pflicht?“ „Wodka-RedBull?“

Wir ziehen die Grenze früh – sehr früh. In der Nähe von Gewässern bin ich nicht bereit, irgendwelchen Spirenzchen Raum zu geben.

Die permanente Wachsamkeit, das ständige Ermahnen strengt an – umso mehr, wenn man weiß: Ich bin ziemlich groß. Ein typisches Jugendherbergsbett ist schlicht zu klein für mich. Viel, viel zu klein. Richtig schlafen ist da nicht drin und ich spüre das bei der Heimfahrt deutlich: Vier Nächte mit marginalem Schlaf, dazu lange Busfahrten. Ich bin nicht in bester Verfassung, als wir Freitagabend ankommen. Meine Uhr sagt: „Du hast in den vergangenen Nächten kaum geschlafen. Dein Puls ist zu hoch. Was stimmt nicht mit dir?“

So manches Kind war noch nie von zu Hause weg: Abends gibt es Tränen. So mancher will zurück. Vom Gefängsniswärter zu Klassenmama.

Spätestens am dritten Tag sind die Kinder erschöpft und haben eine kurze Zündschnur. Zwischendurch müssen wir rechtzeitig antizipieren, bevor irgendwer wegen einer Nichtigkeit aneinandergerät.

All das gelingt uns auch wirklich gut – nicht einen einzigen großen Streit hat es gegeben, kein einziges Mal mussten wir Eltern anrufen. Zumindest nicht aus erzieherischen Gründen.

Denn abends tritt ein Kind in eine Scherbe. Glücklicherweise waren zwei Chirurgen auf dem gleichen Campingplatz und leisteten (mehr als) professionelle Erste Hilfe. Trotzdem war klar: Der Schnitt muss genäht werden. Also spät abends den Krankenwagen rufen und sich dann Gedanken machen, wie man vom Krankenhaus wieder zurück kommt – denn der Campingplatz ist irgendwo im Nirgendwo und nachts fahren keine Taxis mehr. Und auch unser Bus nicht mehr. Puh.

Zum Glück sind wir zu fünft. Alleine wäre das ziemlich ätzend geworden.

Eine Magengeschichte und ein vollgekotztes Bett tief in der Nacht später erzeugt wieder tiefe Dankbarkeit in mir: Wir Lehrkräfte teilen die Arbeit untereinander auf, als hätten wir jahrelang in der Pflege gearbeitet. Kind waschen. Boden schrubben. Bett abziehen. Matratze an die frische Luft.

Pädagogische Betrachtung

Ich würde gerne auf Klassenfahrten verzichten. 1Für die Kinder war diese Fahrt ungeheuer wichtig. Wir hatten ungeheuer viel Spaß, es wurde wahnsinnig viel gelacht und (bis auf einen nächtlichen Hüttenwechsel in der ersten Nacht) keinerlei Regeln gebrochen. Alle waren immer pünktlich. Es wurde nichts zerstört.

Schifffahrt, Tauchglocke, Volleyballspielen mit Herrn Klinge („Der hat Angst!“ „Der kann nix!“), Sonnenuntergang am Strand. All das sind Dinge, die diese Kinder nicht vergessen werden. Viele haben noch nie das Meer gesehen. Sind noch nie Schiff gefahren. Waren noch nie allein von zu Hause weg.

Und dafür hat es sich gelohnt.

Dazu kommt, dass wir fünf Lehrkräfte unfassbar harmonierten. Immer wieder sprechen wir uns ab. Niemand hat „seine“ Klasse, alle sind wir für alle Kinder gleichermaßen verantwortlich. Immer hat jemand die Augen offen. Wenn irgendwer gerade Ruhe braucht, stehen die anderen parat. Wir ergänzen uns in unseren Stärken, hatten sehr viel Spaß miteinander und ich kann mein Glück kaum in Worte fassen, mit diesen Menschen arbeiten zu dürfen.

Und trotzdem:
Ich bin wirklich erschöpft.
Ich bin zu groß für Jugendherbergsbetten.
Ich bin zu alt für nächtliche Partys.

Wenn ich die Wahl hätte, würde ich nie wieder auf Klassenfahrt fahren wollen.

 

Schlagwörter:

5 Gedanken zu „Ich würde gerne auf Klassenfahrten verzichten.“

  1. Wie schön, dass es schön war. Bei uns war es das gleichermaßen auch. Ich fahre immer noch gerne, nicht nur, weil es diesmal klimatisiert war. Ich passe auch in die Betten, bin ja klein

  2. Lieber Jan-Martin,

    ich bin ebenfalls gestern von einer Klassenfahrt zurückgekommen, Berlin mit einer 10. Klasse voller (liebevoll gemeinten) „Landeiern“ und ich kann jeden deiner Sätze unterstreichen. Danke für diesen wunderbaren Artikel!

    Viele Grüße und morgen einen guten Restart (ich habe mein Schlafdefizit auch noch nicht wieder aufgeholt…)

  3. 50 Kids und 5 Lehrkräfte? Das sind also heute „Klassenfahrten“! Kein Wunder, dass das erheblich stresst. Da hab ich mit 2 Klassenfahrten in den 70gern ja noch echt Glück gehabt: Zu 24 nach Berchtesgaden, in der 11. zu 14. nach Viareggio – jeweils ein Lehrer plus eine Begleitperson aus der Elternschaft.
    Hoffentlich sind die Schüler/innen wenigstens dankbar für Eure großartige Leistung!!!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert