Ich lasse mich leicht begeistern.
Von technischen Spielereien. Von wissenschaftlichen Fakten. Von Menschen. Von Berufen.
Einer der grandiosen Zufälle meines Lebens ist, dass ich mit einer Pastorin verheiratet bin. Wo ich Kirchen oder biblische Texte wie ein Trottel betrachte, weiß meine Frau oft die irrsten Zusammenhänge.
Darum beneide ich sie.
Aber es läßt mich immer wieder sprachlos zurück, wenn sie mir hier und da ein wenig von ihrer Welt eröffnet.
So wie heute.
Heute feiern wir Pfingsten, ein Fest, das sich von Pentacosta ableitet, das ist griechisch und bedeutet “fünfzig”. Pfingsten gilt als die Geburtststunde der Kirche. Kirche. Was immer einem in den Sinn kommt, wenn man an den Begriff Kirche denkt – hier ging es los.
1 Zum Beginn des jüdischen Pfingstfestes waren alle Jünger wieder beieinander. 2 Plötzlich kam vom Himmel her ein Brausen wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sich versammelt hatten. 3 Zugleich sahen sie etwas wie züngelndes Feuer, das sich auf jedem Einzelnen von ihnen niederließ. 4 So wurden sie alle mit dem Heiligen Geist erfüllt und redeten in fremden Sprachen, jeder so, wie der Geist es ihm eingab. 5 Zum Fest waren viele fromme Juden aus aller Welt nach Jerusalem gekommen. 6 Als sie das Brausen hörten, liefen sie von allen Seiten herbei. Fassungslos hörte jeder die Jünger in seiner eigenen Sprache reden. 7 „Wie ist das möglich?“, riefen sie außer sich. „Alle diese Leute sind doch aus Galiläa, 8 und nun hören wir sie in unserer Muttersprache reden; 9 ganz gleich, ob wir Parther, Meder oder Elamiter sind. Andere von uns kommen aus Mesopotamien, Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, 10 aus Phrygien, Pamphylien und aus Ägypten, aus der Gegend von Kyrene in Libyen und selbst aus Rom. Wir sind Juden oder Anhänger des jüdischen Glaubens, 11 Kreter und Araber. Doch jeder von uns hört diese Männer in seiner eigenen Sprache von Gottes großen Taten reden!“ 12 Bestürzt und ratlos fragte einer den anderen: „Was soll das bedeuten?“ 13 Einige aber spotteten: „Die haben doch nur zu viel getrunken!“
Was eine Passage! Von vielen Theologen wird diese Passage als die Geburtsstunde der Kirche angesehen. Und eine großartige Frage, um sich mit dem Text zu befassen, wird auch direkt im Text gestellt:
„Was soll das bedeuten?“
Und auch ich frage mich das und denke insgeheim, dass sie vielleicht doch einfach zuviel getrunken haben. Aber meine Frau kann mich dann auf Dinge aufmerksam machen, von denen ich keine Ahnung habe.
Wir müssen daran denken, erklärt sie, dass diese Geschichte von Juden des ersten Jahrhunderts handelt. Gottesfürchtigen Juden. Und von Menschen, die keine Juden waren, aber dem jüdischen Gott dienten. Und im Bewusstsein eines Juden aus dem 1. Jahrhundert war alles, wirklich alles eine Folge von Exodus. Exodus bestimmte das Denken, die Gesellschaft, das Leben.
Ihre Vorfahren waren Sklaven in Ägypten und Gott hat sie errettet.
In Exodus 12 beginnt die Befreiung der Sklaven damit, dass Gott ihnen sagt:
2 „Dieser Monat soll für euch von nun an der erste Monat des Jahres sein. 3 Richtet den Israeliten aus: Am 10. Tag dieses Monats soll jeder für seine Familie ein Lamm auswählen.
Und im weiteren Verlauf von Kapitel 12 bekamen die Sklaven ganz spezifische Anweisungen für ein Mahl, dass sie halten sollten, in dessen Zentrum ein Lamm stand, denn in dieser Nacht sollten sie aus der Gefangenschaft freikommen.
„Dieser Monat soll für euch nun an der erste Monat des Jahres sein.“
Das ist der Punkt hier, nicht wahr? Wir wachsen auf, wir machen Fehler. Beziehungen zerbrechen. Wir geraten in Dinge, die zerstörerische Konsequenzen nach sich ziehen und wenn wir ganz ehrlich sind, dann bemerken wir, dass wir nichts unter Kontrolle haben und sich die Verletzungen und Fehler zu einer Katastrophe ausgeweitet haben. (An dieser Stelle schaut mich meine Frau lange an.)
Und die Frage ist: Kann ich einen neuen Anfang bekommen? Kann ich nochmal neu anfangen? Ist dass jetzt immer so oder kann ich ein neues, weißes Blatt Papier bekommen? Kann ich ein Morgen bekommen, dass anders ist, als das heute?
Das ist eine der fundamentalen Fragen in der menschlichen Geschichte: Ist Morgen genauso wie das Heute? Oder kann „Morgen“ anders sein?
Die Geschichte in Exodus erzählt im Kern von einem Gott, der sagt: „Okay, dieser Monat soll für euch nun wie der erste Monat eines neuen Jahres sein!“
Morgen wird nicht wie heute sein.
Darum fand diese Geschichte so wahnsinnig große Resonanz in allen Kulturen. Dieser Gott ist kein distanzierter Gott, sondern ein Gott der Hoffnung.
Diesen Sklaven wurde gesagt: Habt noch einmal Abendbrot und dann ist es Zeit zu gehen. Und sie verließen Ägypten.
Und als sie loszogen, da finden wir im Text ein kleines Detail über diese Gruppe von Menschen. Sie werden als Haufen bezeichnet, als „rav“ (רַ֖ב) im Original. Viele Nicht-Israeliten sind bei ihnen. Das waren nicht nur gute jüdische Menschen – das war ein buntgemixter Haufen. Ein wilder Haufen von Flüchtlingen. Ausländern. Migranten. Dunkle Haut. Helle Haut. Reiche. Arme. Wilde Leute unter ihnen. Das ist ganz zentral für diese Geschichte. Zentral für das jüdische Verständnis dieser Zeit, dass Gott jüdische Sklaven aus der Sklaverei befreit hat – UND tausende anderer Menschen dazu.
“Merk dir das”, sagt meine Frau dann und ich fühle mich, wie sich wohl meine Schüler fühlen müssen. “Wir kommen später nochmal darauf zurück.“
Als Sklaven waren diese Menschen der Besitz des Pharaos. Und so sind sie im Grunde noch nicht wirklich frei, solange der Pharao noch hinter ihnen her ist. Solange sie noch nicht durch das Meer durch sind und Charlton Heston sie verfolgt, sind sie noch nicht wirklich frei.
In 14,30 lesen wir erst: Nun, hat der Herr Israel gerettet.
Fassen wir also zusammen: Wir haben ein Passahfest, ein letztes Mal. Und wir haben kurze Zeit später ein einschneidendes Erlebnis von Befreiung und Freiheit und göttlicher Inspiration und sind dann 50 Tage durch die Wüste unterwegs, bis sie am Berg Sinai die 10 Gebote bekommen.
19,1 Genau am 1. Tag des 3. Monats nachdem die Israeliten Ägypten verlassen hatten, erreichten sie die Wüste Sinai.
50 Tage? Pfingsten? Pentacosta? Da war doch was?
Sinai nun ist ganz wichtig. Diese Leute sind aus ihrer Existenz geflohen. Sie sind frei. Aber was sind sie nun? Wer sind sie?
In Sinai gibt Gott ihnen eine neue Existenz. Eine Identität. Ihr seid „mein Volk“. Dieses Volk ist dazu ersehen, der Welt zu zeigen, wie sehr Gott sie liebt. Wie diese Liebe aussieht.
Es gibt nun eine Reihe von Details, die uns verraten, wie es in Sinai ausgesehen hat.
Dort lesen wir zum Beispiel:
19,16 Früh am Morgen des dritten Tages begann es zu donnern und zu blitzen.
Nun, das Wort „Donner“ ist das hebräische Wort קֹלֹ֨ת (kolot). ‚Kol‘ bedeutet „Stimme“ und „ot“ ist ein Plural-Ende, würde als bei uns einem Plural-s entsprechen. „Kolot“ bedeutet: ‚Stimmen‘.
Wir lesen: Es blitzte und donnerte. Im hebräischen steht dort aber – literarisch -: Da waren „Stimmen“. Und zweitens:
19, 18 Der Berg Sinai war in dichten Rauch gehüllt, denn der Herr war im Feuer herabgekommen.
Feuer und Stimmen. Feuer und Stimmen waren zwei Charakteristika dieses Ereignisses. Feuer und Stimmen.
Sinai ist die Wildnis. Sinai ist kein Land. Es gab keinen politischen Herrscher über Sinai. Es gab keinen König von Sinai. Keinen Präsidenten. Nein, Sinai ist frei von allen politischen oder nationalen Ansprüchen.
Gott trifft diese Menschen in einem Gebiet, das niemandem gehört. Weil niemand diesen Gott besitzt. Er entzieht sich jedem politischen oder nationalen System. Das ist ziemlich deutlich, oder?
Dieser Gott steht über jeder Nation, jeder Politik, jeder Ethnie oder Bevölkerungsgruppe. Durch Stimmen, durch „Donner“ sagt er: Ich bin euer Gott.
Jeder gute Jude feiert also zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr die Flucht aus Ägypten. Und dann drei Tage später feiert er, dass die erste Frucht aus der Erde entsprungen ist (*zwinker* *zwinker*) und dann 50 Tage später Pentacosta – das Erhalten der 10 Gebote.
Wenn wir nun ins Neue Testament springen: In Matthäus 26 feiert Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl. Er wird dann eingesperrt, verurteilt und umgebracht. Drei Tage später steht Jesus wieder auf. Er kommt aus der Erde zurück. Und dann, 50 Tage nach dieser Befreiung vom Tode, treffen sich Jesu Jünger zusammen
Apostelgeschichte 2,1 Zum Beginn des jüdischen Pfingstfestes waren alle Jünger wieder beieinander.
Nun.. ein guter Jude des ersten Jahrhunderts liest hier… Exodus 19 und 20!
Man erzählt die Geschichte eines Gottes, den keine Nation besitzt. Man erzählt die Geschichte von Stimmen und Feuer neu. Von Gottes universeller Liebe zu allen Menschen.
Die Jünger, als gute Juden des 1. Jahrhunderts, feiern also das traditionelle Pfingstfest, als
2 Plötzlich kam vom Himmel her ein Brausen wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sich versammelt hatten. 3 Zugleich sahen sie etwas wie züngelndes Feuer, das sich auf jedem Einzelnen von ihnen niederließ.
Und danach sprechen sie in vielen Sprachen, was bedeutet, sie können die Botschaft von Gott zu allen Menschen (bunter Haufen ) in der Welt weitergeben. Nicht wahr?
Was bedeutet das alles?
Ein Jude des ersten Jahrhunderts denkt bei dieser Geschichte: Hey… Sinai lebt. Gott spricht schon wieder. Er kümmert sich immer noch um seine Menschen. Um die ganze Welt!
Und wenn meine Frau mir sowas erklärt. Solche Zusammenhänge und Einblicke, dann sitze ich da und denke: Hatte sie vielleicht zuviel Wein?
Wow, das war toll zu lesen. Danke 🙂 Bin ohnehin Fan deines Blogs. Weiter so.
Danke 🙂
Haha hab gerade in google „Wein“ eingegeben und da kam der Link zu dieser Seite auf der ersten Seite (wenn auch ganz unten)! Glückwunsch!
Hui… Danke 🙂
Aber… Warum googlest du nach Wein. Ist der Job so anstrengend?
Ich bin Relilehrerin und ganz baff, wie man auf diesem doch recht physiklastigen Blog noch etwas im eigenen Fach dazu lernen kann.
Vielen Dank und frohe Pfingsten!
Toller Artikel, es tat gut ihn zu lesen.
Leider muss ich altklug sein: Yul Brynner war der Verfolger, Charlton Heston als Mose der Anführer..
Gruß
Christian
Oha. Stimmt natürlich. 🙂
Pfingsten mal anders erklärt … Wo katholische Priester aus ehemals einfachen Fischern spontan sprachbegabte Genies mit weltumfassender Weisheit werden lassen, braucht es etwas Wein und eine Pastorin, um sich an die Wurzeln zu erinnern. So kann’s gehen. Trotzdem sehe ich persönlich den Text als nicht allein in die Vergangenheit verweisend an, sondern zukunftsträchtig. Denn wie bereits erwähnt, geht es um die Geburtsstunde einer Kirche, die sich nicht allein aus der Vergangenheit speist. Will heißen:
Natürlich kam da mal ein wilder Haufen Menschen aller Art zusammen, als sie ein gemeinsames Ereignis (die Flucht aus Ägypten) verband. Ein ähnlich wilder Haufen, ähnlich verzweifelt, sitzt da um die fünfzig Tage nach dem, was wir heute Ostern nennen, wieder beisammen – die Parallelen sind offensichtlich. Was die Menschen dieses zweiten wilden Haufens aber verbindet, ist nicht allein die Verzweiflung, sondern diesmal auch eine Zukunftsvision, und genau da ist Basis für „Kirche“ zu sehen. Die Leute haben etwas gemeinsam. Sie kennen da einen, der ganz konkret als Mensch wie sie gelebt hat und ganz konkret große Träume von Frieden, von Miteinander, von Freundschaften und so etwas wie Gemeinschaft in einem demokratischen und fürsorglichen Sinn hatte. Zusammen weiterträumen. Das ist der erste Schritt. Da gibt es etwas, was über Sprachbarrieren hinaus verständlich ist (manchmal braucht’s ein Auslandssemester, eine binationale Freundschaft oder gar Ehe, um das rauszufinden und vor allem nachvollziehen zu können). Der wilde Haufen versteht sich plötzlich auf einer ganz anderen Ebene, die Herkunft, Kultur, soziale, nationale, sprachliche Zugehörigkeit der Menschen ist unwichtig. Kann man mit Wein erreichen … kann man auch anders erreichen. Wein hilft. Die Erkenntnis, dass wir alle nur Menschen sind, nicht mehr und nicht weniger, hilft auch. So etwas soll heute noch passieren, ab und zu. Manchmal in kleinem Rahmen, mit nur zwei oder drei Menschen, manchmal mit einem ganzen Haufen. Und wenn alle so beisammen sitzen und sich wohlfühlen und vor sich philosophieren, dann sagt man nicht umsonst, dass der „Funke überspringt“.
Bibel-Teilen über’s Netz … Ist mal was neues. Grüße aus dem Südwesten und frohe Pfingsten!
M. B. Weber
Danke für diese kleine Pfingstpredigt. Der zeitliche Zusammenhang zwischen auszug und Karfreitag und Pfingsten fiel mir vorher nicht auf. Dabei ist es doch offensichtlich …
Gestern habe ich mit meiner Familie einen Film gesehen, in dem ein etwa 10jähriges Mädchen mit Freunden zum ersten Mal eine Kirche besuchte. Sie fand die Themen unglaublich faszinierend, was ihre Freunde wiederum nicht glauben konnten – erschien ihnen doch die Bibel überaus gruselig. Darauf meinte sie: „Ihr müsst daran glauben, ich nicht. Deshalb können mir die Geschichten gefallen.“ Ich musste so an dich und deinen Blog denken. 🙂
🙂
Super – ich freue mich immer wenn ich unerwartet auf Input für den Glauben stoße! Besser als so manche Predigt (wobei unsere heute auch super war).
Ich finde den Vers 15 (direkt nach der zitierten Stelle) so herrlich, wo Petrus die Sache mit dem Wein ablehnt mit der Begründung: Es ist doch erst 9 Uhr morgens!
Was sagt uns das … ?