Nach vielen Jahren Ehe stehen sie davor, sich zu trennen. Es gab kein besonders Ereignis, das dies begründet hätte. Sie hatten sich einfach auseinandergelebt. Verloren.
2000 Jahre zurück. Maria hatte Jesus verloren. Nirgends konnte sie ihn finden. Er war einfach verschwunden. Er war nicht bei seinen Freunden oder der Familie oder dem Rest der Gruppe, mit der sie nach Jerusalem gereist waren, um das Passahfest zu feiern und die nun wieder zurück nach Nazareth wollten. Jesus war eigentlich zuverlässig und man konnte ihm vertrauen – aber nun war er einfach weg.
Besorgnis wich echter Panik, als Maria und Joseph durch Jerusalem streiften, um ihren 12 Jahre alten Sohn zu suchen.
Drei Tage lang haben sie sich die Füße blutig gelaufen und hier und da und dort gefragt. Wie entsetzlich muss es ihnen gegangen sein! Wie schnell bin ich nervös, wenn ich meine Kinder aus den Augen verliere. Wie oft haben mir meine Eltern bestimmte Treffpunkte eingebläut, falls man sich aus den Augen verlöre.
Am dritten Tag fanden sie Jesus im Tempel, zwischen den Rabbis und Priestern sitzend, vertieft in eine theologische Diskussion. Im Nu wandelte sich Marias Angst in Erleichterung und dann Verwunderung. „Warum hast du das getan? Dein Vater und ich sind schier wahnsinnig geworden und haben dich überall gesucht!“
Mein Mitgefühl gehört hier ganz der Mutter. Meinem Verständnis nach sollten sich 12jährige Jungen nicht einfach so aus dem Staub machen und tagelang verschwinden. Aber hier geht es, dem christlichen Verständnis folgend, nicht um irgendeinen Heranwachsenden – dies ist das göttliche Wort in Menschengestalt. Und Jesus entschuldigt sich auch nicht. Was er statt dessen sagt, sind die ersten überlieferten Worte von ihm: „Warum habt ihr nach mir gesucht? War euch nicht klar, dass ich in meines Vaters Haus sein muss?“
Weder Maria, noch Joseph verstanden, was Jesus damit meinte. Nicht das erste Mal, dass Eltern ihren Nachwuchs nicht verstehen und nicht das letzte Mal, dass Menschen Jesus nicht verstehen würden.
Diese Geschichte aus Lukas 2, 41-52 handelt davon, Jesus zu verlieren. Maria hatte Jesus für sich. Sie gebar ihn. Sie umsorgte ihn und zog ihn auf. Besser als jeder andere. Und dann verlor sie ihn. Maria war gezwungen, das Bild ihres Kindes neu zu durchdenken. Sie musste ihn neu kennenlernen. Jahre später, würde sie ihn erneut verlieren.
Jesus begann sein Priestertum, als er etwa 30 war. Er verließ Nazareth und zog nach Kapernaum. Seine Familie war nicht so begeistert von seinen Plänen – sie wollten ihn zwingen, nach Hause zu kommen. Anscheinend dachten sie, er habe seinen Verstand verloren (Markus 3:21). Als sie ihn in Kapernaum aufsuchten, erreichte Jesus eine Botschaft: „Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und fragen nach dir!“ woraufhin er antwortete „Wer sind meine Mutter und meine Brüder? Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Ein zweites Mal hat Maria ihren Sohn verloren. Sie hat ihn gesucht und wieder gefunden und musste ihr Bild von ihm wieder erneuern.
Ein letztes Mal sollte sie Jesus verlieren. Und wieder drei Tage in Jerusalem – an Karfreitag.. und ihn am Ostersonntag wieder finden. Aber nach diesem Ereignis musste sie Jesus ganz neu erfassen.
Gott verlieren. Gott finden. Gott neu durchdenken. So erleben wir religiöse Entwicklung. Ich glaube sogar, dies ist der einzige Weg, geistiges Wachstum zu erleben. In dieser Reihe schrieb ich mehrfach, dass ich die Bibel als eine sich entwickelnde Geschichte verstehe, die ihre eigenen Wachstumsschübe und Entwicklungsstufen reflektiert. Warum sollte es mir da anders gehen.
Wir haben ein bestimmtes Gottesbild. Wir haben Christentum verstanden. Wir glauben zu wissen, wo die Volksmenge ist und wo wir Jesus finden werden. Wir glauben zu wissen, wo wir ihn immer finden werden. Aber dann.. eines Tages.. ist er nicht mehr da. Wir müssen ihn suchen. („Sucht und ihr werdet finden.“)
Aber nachdem wir Gott wieder gefunden haben, ist er.. anders. Unser Bild von ihm hat sich geändert und wir müssen es neu durchdenken. Neu erfassen. Geistiges Wachstum. Dinge, die früher galten, gelten jetzt nicht mehr. Das eine war damals, das andere ist jetzt.
Diese Erfahrung machen viele von uns. Im Gottesbild. In Freundschaften. Beziehungen. Der Ehe. Heute sind meine Frau und ich 12 Jahre miteinander verheiratet – und auch wir haben uns zwischendurch neu gefunden. Heute feiern wir jeden Tag.
Als Kind ging ich in eine katholische Grundschule. Obwohl ich nicht religiös erzogen wurde, verbindet mich ein tiefes Band mit der katholischen Zeremonie. Während meines Studiums wohnten wir eine Zeitlang neben einer kleinen katholischen Kirche und ich machte es mir zur Angewohnheit, regelmäßig die Morgenandacht zu besuchen. Für eine lange Zeit war Gott in diesem Kontext für mich relevant. Das war wunderbar. Aber das Leben ändert sich. Wieder und wieder habe ich meinen Glauben neu durchdacht. Eine Freundin von mir pilgert hunderte von Kilometern. Meine Frau liest hunderte von Büchern. Ich tue weder das eine, noch das andere. Genau wie bei Maria hat sich unser aller Bild von Jesus gewandelt.
Wie bin ich heute ich geworden? Indem ich Gott verloren und wiedergefunden habe. Das ist nur meine Geschichte. Andere haben anderes erlebt.
Oft muss ich genau aufpassen – manchmal merke ich gar nicht, dass er weg ist. Er war in den letzten zehn Jahren inmitten der Menschenmenge, da wird er wohl immer noch da sein. Weil ihre Ehe die letzten Jahre gehalten hat, wird die Liebe wohl noch da sein. Aber genau diesem Trugschluss unterlagen Maria und Joseph. Jesus ist verlässlich, aber nicht berechenbar. Der Jesus der Evangelien ist voller Überraschungen. Zu denken, die Art wie ich Gott früher verstanden habe, würde auch zukünftig gelten, ist ein Zeichen für Stagnation.
Ich habe Gott.
Ich verliere Gott.
Ich suche Gott.
Ich finde Gott.
Ich durchdenke Gott neu.
Dies ist das unausweichliche Muster geistigen Wachstums. In seinem Buch „When God Interrupts: Finding New Life Through Unwanted Change“ schreibt Craig Barnes: „Die tiefe Angst hinter jedem Verlust ist, dass wir von einem Gott verlassen wurden, der uns eigentlich hätte retten müssen. Dieser tiefe Moment christlicher Bekehrung kommt, wenn wir erkennen, dass sogar Gott uns verlassen hat. Wir entdecken erst danach, das nicht Gott verschwunden ist, sondern unser Bild von ihm. Und nur dann ist Veränderung möglich.“
Johannes vom Kreuz (1542-1591) bezeichnete das Verlieren Jesu als die „dunkle Nacht der Seele“. Diese dunkle Nacht ist keine Krise durch äußerer Umstände, sondern eine spirituelle Krise durch Gottes Abwesenheit. Bin ich dessen gewahr? Betrachte ich den Gottesdienst? Die Menschenmenge? Die äußere Bande? Oder sehe ich mehr?
Gott schiebt uns vorwärts durch seine scheinbare Abwesenheit, gleich einem göttlichen Versteckspiel. Wir suchen und finden.. und entdecken, dass wir an neuen Orten angekommen und ein anderer Mensch geworden sind.
Gott verlieren. Die dunkle Nacht der Seele. Sich vom Partner entfremden. Schmerzhafte Prozesse. Auf diese Weise wachsen wir. Ohne würden wir stagnieren. Immer gleich bleiben, ohne wahrzunehmen, wie wir geworden sind.
Suchen und finden. Und in diesem Prozess verändert werden.
Dank geht an Brian Zahnd.
(Das Bild ist The Finding of the Saviour in the Temple von William Holman Hunt, 1860.)
Ernst gemeinte Frage: Was ist mit den Menschen, die Gott zwar durchaus gesucht, aber nie gefunden haben? Sie haben ihn nicht, sie können ihn folglich nicht verlieren und auch nicht wiederfinden und neu durchdenken.
Ich glaube, auch Atheismus/Agnostizismus ist diesem Rhythmus verlieren/zweifeln-suchen-weiterentwickeln unterworfen – wenn auch nicht so bewusst. Auch ein Richard Dawkins (als prominentes Beispiel) wird seine Ansichten immer wieder neu in Frage stellen und neu begründen. Er kommt nur zu anderen Schlüssen als ich bspw.
Abgesehen davon würde denken, dass sich dies auch auf Weltbilder, politische Überzeugungen und moralische Werte beziehen lässt.
Innerhalb dieser Reihe dient die Bibel mir als roter Faden – daher auch die Beschränkung auf religiöse Themen.
Vielen Dank für diesen gehaltvollen Artikel.
Er begegnet mit in einer Zeit der Gottverlorenheit und gibt mir Hoffnung, dass „ER“ vielleicht doch kein Hirngespinst ist/war.
Das sind wirklich schwere Zeiten, die zu überstehen sind. Glaube, der sich verändert kann ganz schön Angst machen. Die vielen unbeantworteten Fragen – die entsetzliche Leere, die entsteht – das fehlende gewohnte Gegenüber…HILFE!!!
Hast du, Jan-Martin konkrete Vorschläge und Ideen, dem zu begegnen?
VG
AHV
Ich bin vorsichtig mit Vorschlägen, dass das sind auch immer -Schläge.
Mich inspirieren Gespräche und die intellektuelle Auseinandersetzung. Gott neu zu denken. Das ist mir ganz wichtig.