Meine Frau ist Pastorin einer kleinen evangelischen Gemeinde. Wie viele Kirchen erfüllt auch diese den Dienst eines sozialen Netzes – sie verbindet Menschen generationenübergreifend miteinander. Für eine Kirchengemeinde bergen die Gottesdienstverbote nicht nur Herausforderungen, sondern auch die Möglichkeit, eigenen Vorurteilen aktiv zu begegnen.
Vor einem halben Jahr erzählte mir eine Kollegin von einer beruflichen Reise, die sie hatte antreten wollen. „Und was machst du mit deinem Kind?“, fragte ich und biss mir augenblicklich auf die Zunge. „Witzig“, erwiderte sie, „hättest du das meinen Mann auch gefragt?“
Vorurteile. Der Fauxpas ärgert mich bis heute.
Nicht nur uns Lehrern begegnet die Frage nach dem Halbtagsjob regelmäßig: Auch meine Frau wird immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob sich ihr Beruf als Pastorin nicht eigentlich auf Sonntagvormittags, zwei Stunden, reduziert. Und, ebenso wie bei den vielen engagierten Lehrerinnen und Lehrern in dieser Zeit, hat sich auch ihr Arbeitspensum durch die Kirchenschließung deutlich erhöht.
Die Gottesdienste werden sowohl in Form eines Videos als auch als AudioCD für alle Interessierten bereitgestellt. Neben der konzeptionellen und inhaltlichen Vorbereitung fragt meine Frau im Laufe der Woche einige Gemeindemitglieder an, ob sie diese oder jene Beiträge zum Gottesdienst leisten wollen. Eine Lesung beispielsweise. Oder ein Musikstück. Etwas, dass eine Gemeinschaft am Leben hält. Im Verlauf der Woche bekommt meine Frau diese Bruchstücke in unterschiedlicher Form und Dateifassung zurück. Wenn ich beruflich viel an die Familien denke, die gerade eingesperrt mit und genervt von ihren Kindern in einer kleinen Wohnung denken, so hat meine Frau auch jene im Blick, die nun seit Wochen ganz allein in ihrem Heim sitzen. Die viel dafür gäben, von kleinen Kindern umgeben zu sein. Diese Isolation schmerzt ganz besonders und erklärt (nicht entschuldigt) sicher auch, warum so viele Alte in Parks und Baumärkten anzutreffen sind.
Parallele zur Schule
Spannend: Auch der schulische Fernunterricht erfüllt gerade nicht nur den Zweck der Inhaltsverbreitung, sondern auch den des sozialen Miteinanders. Das Gefühl „Du bist nicht allein!“ und „Es gibt Struktur!“. Auch als Lehrer erhalte ich Schülerarbeiten in verschiedenen Dateiformaten zurück: pdf, docx, odb, jpg…
Einen Vormittag lang verbringt meine Frau dann vor der Kamera und mindestens einen ganzen Arbeitstag am Computer. Filmschnitt. Texte einblenden. Ton abmischen. Elemente umsortieren. Anschließend muss das fertige Video abgespeichert und via FTP auf die Gemeinde-Homepage hochgeladen werden, damit alle Freunde und Mitglieder unserer Gemeinde am Sonntag ein Stück weit aneinander teilhaben können. Bis spätestens Freitag muss auch eine Audio-Fassung des Gottesdienstes bereitliegen. Es werden 14 AudioCDs gebrannt und an jene Senioren zwischen 80 und 96 Jahren verteilt, die sich nun wirklich zu alt für Videostreaming fühlen (Vorurteil! Vorurteil!).
Nichts davon mache ich. Weder das Filmen. Noch das schneiden oder umwandeln.
Nichts.
Nada.
„Wow! Machst du das mit einem Teleprompter? Oder scrollt dein Mann einen Bildschirm herunter?“, wird meine Frau aber gefragt. „Welches Programm nutzt dein Mann denn zum Schneiden des Videos?“ „Kann der Jan mir vielleicht auch sagen, wie…“
Immer wieder erreichen uns Mails, wie großartig doch das Video des Gottesdienstes sei und wie dankbar man für die Verbindung und man ausdrücklich auch „dem Jan-Martin danken“ wolle, obwohl man ihn ja gar nicht sähe.
Ja, mei.
Zwei Pastorinnen hat unsere progressive, wunderbare Gemeinde. Beide filmen und schneiden im Wochenwechsel Gottesdienste und laden sie via ftp auf den gesicherten Bereich unserer Gemeindehomepage hoch.
Beiden wird Woche für Woche gedankt.
Aber beide erhalten sie nicht die Anerkennung, die sie verdienen.
Ich frage mich, wie oft ich selbst diesem Vorurteil unterliege. Wie oft ich Frauen technisches KnowHow unterstelle oder abspreche. Ob ich Kompetenzen geschlechterabhängig zuspreche. „Whoever is not a feminist is a sexist“ sagte Gal Gadot, die Darstellerin der WonderWoman 2017.
Nun, ich arbeite dran.