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Erziehung im Marmeladenglas

Erziehung im Marmeladenglas 1Meine große, vierzehnjährige Tochter und ich haben ein wirklich außergewöhnliches Verhältnis. Vielleicht, weil ich während meines langen Studiums viel Zeit zu Hause verbracht habe. Vielleicht, weil ich früh einen Elternteil verloren habe und jeden Tag als Geschenk betrachte. Vielleicht auch einfach, weil sie eine Granate ist.

Mit ihr gucke ich abends gruselige Horrorfilme und wir liegen uns kreischend in den Armen. Zu ihrem Geburtstag bin ich mit einer Scream-Maske ums Haus geschlichen und während meine Frau und ich gerade viel und intensiv arbeiten ist sie diejenige, die morgens und abends den Tisch abräumt, die Wäsche aufhängt, die Hühner füttert und ihre kleine Schwester bespaßt.

Vor einem Monat hatte ich zufällig fünfzig Euro im Portmonee und forderte sie heraus: „Hey, wie wäre es mit einer Herausforderung“, erklärte ich ihr, „hier sind fünfzig Euro. Die kommen in ein Marmeladenglas und wir machen jeden Tag Sport. Wer länger durchhält, gewinnt das Geld.“

Sie überlegte einen Moment. „Wen man einen Tag nichts macht, ist man raus?“

Ich nickte.

„Okay, aber dann lege ich auch 50 Euro dazu.“

Dagegen wehrte ich mich zunächst. Ich wollte meiner eigenen Tochter kein Geld abknüpfen – zumal ich natürlich vorhatte zu gewinnen. Aber sie insistierte: Ohne eigenen Einsatz wäre das witzlos, dann hätte sie nichts zu verlieren. Ich gab nach.

Erziehung im Marmeladenglas 2Mittlerweile sind 31 Tage vergangen. Einunddreißig Tage voller Muskelkater und Bauchschmerzen, ziehender Sehnen und Krämpfe.
Aber keiner von uns hat aufgegeben. Nicht einen einzigen Tag. Immer mindestens 20 Minuten folgen wir den Übungen einer Fitness-App. Auch das Marmeladenglas ist inzwischen voller geworden. Wann immer ich ein paar Euro übrig hatte, sind sie ins Glas gewandert.
Manchmal komme ich erst nach 22 Uhr dazu. Auf den letzten Drücker (wie meine eigenen Schüler) und manchmal habe ich wirklich keine Lust. Es gibt Nachmittage, da schaut sie mir bei den Übungen zu und kommentiert gehässig „hey! Popo tiefer! Tieeefer!“ „Wenn du auch nur eine Sekunde zu früh nachgibst, bist du raus!“ „Ich weiß nicht, ob man das gelten lassen kann!“
Hin und wieder schickt sie ihre kleine Schwester vor um mich zu stören und zu nerven („Lina hat gesagt, ich darf auf deinem Rücken reiten während du das machst!?“)

Umgekehrt bin ich natürlich kein Deut besser.

31 Tage am Stück.
Vor rund einem Jahr schrieb ich darüber, wie genervt ich von mir selbst sei, dass es so große Lücken in meinem Leben gäbe: Sport, Musik, Politik, Physik. Dinge, die aufzuarbeiten ich mir selbst vorgenommen habe.

Ein Jahr lang habe ich es geschafft, regelmäßig zu laufen. Und einunddreißig Tage hintereinander Übungen zur Muskulatur.

Das darf gefeiert werden. Und das wird auch gefeiert – sobald ich das Preisgeld gewonnen habe. Aber dafür muss diese wunderbarste Tochter von allen endlich aufgeben.

Aber das wird sie nicht. Niemals. Und ich liebe sie dafür.

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