Via Twitter teilt der Lehrerkollege @Laberfach eine deprimierende Analyse des deutschen Schulsystems und wirft eine Reihe von Fragen auf, die ich nicht zu beantworten in der Lage bin. Interessant fand ich den Text unter anderem auch deshalb, weil ich („man“) oft zu leichten Lösungsideen neigt und die Frage in den Raum wirft „Warum macht man nicht einfach XY?“ – die Realität sieht hingegen anders aus.
Der Original-Thread findet sich hier – ich habe ihn mit leichten Anpassungen übernehmen dürfen.
Man sieht zurzeit viele Initiativen und bunte Flyer, wie man #Schule zukunftsfähig machen könne. Mal ganz direkt gefragt: Ist die deutsche Schullandschaft überhaupt noch reformierbar…?
I. INVESTITIONSSTAU
Je nach Quelle kann man zurzeit von irgendwas um 45 Milliarden Euro Investitionsstau an deutschen Schulen ausgehen: Marode und viel zu kleine Gebäude, defekte Geräte, unappetitliche Sanitäranlagen, offene Wände und fehlende IT-Infrastruktur.
Ca. 45.000.000.000 € fehlen für Mindeststandards.
Dafür sind die Schulträger / Kommunen zuständig, die oft selbst jeden Cent dreimal umdrehen. Klar: Krankenhäuser, Feuerwehren, Polizei und Straßen – überall muss erneuert werden.
Hilfe vom Bund ist juristisch heikel – der Föderalismus darf debattiert werden, hat aber seine historischen Gründe. Am Ende bleiben die Länder und Kommunen allein.
Erster Befund also: Mit intakten oder gar schönen Lernumgebungen rechnet kurzfristig niemand.
II. POLITIK
Eine Ebene höher konkurrieren in Deutschland 16 verschiedene Schulsysteme, von denen jedes versucht das Chaos allein zu bezwingen. Während der Pandemie sieht man es überdeutlich:
- Gemeinsame Standards?
- Professionelle Vernetzung?
- Eine Linie?
Davon war zuletzt wenig zu sehen.
Die wirklich wichtigen Entscheidungen treffen die Kultusminister:innen – also aktuell 7 Jurist:innen, 2 Damen aus der Immobilienbranche, Politolog:innen, Volkswirt:innen, ein Diplom-Ingenieur für Betontechnik und tatsächlich 2 (!) Lehrer:innen.
Die #KMK bringt also kaum eigene Expertise zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Bildungslandschaft oder schulische Praxiserfahrung mit.
Warum ist das wichtig?
An einer Grundschule unterrichtet man anders als an einem privaten Gymnasium als an einer Brennpunkthauptschule als an einer Förderschule als an einer Berufsschule. Entsprechend unterschiedlich sind die Anforderungen und Bedarfe der einzelnen Schulen. Was mir, einem Lehrer mit vielen Jahren Erfahrung, wie eine gute Idee erscheint, mag eine Schule weiter schon völlig unpassend sein.
Fazit: Die Bildungsminister:innen haben in Deutschland eine zumindest in Frage zu stellende Kompetenz und außerdem traditionell ein lächerliches Budget um überhaupt irgendwas zu tun.
III. #CHANCENGERECHTIGKEIT
Ebenfalls politisch: Unser Schulsystem ist (auch im internationalen Vergleich) unzumutbar ungerecht. (Quelle)
Die Schulabschlüsse von Kindern sind in Deutschland fast kausal mit dem Kontostand der Eltern verknüpft. Der Markt regelt? Der Markt regelt!
Oft kommt an dieser Stelle der Einwurf: „Aber ICH komme ja auch aus einer Arbeiterfamilie und habe Abitur…!!“
„Survivorship Bias“ nennt man das und wir alle kennen (und freuen uns über!) solche Erfolgsgeschichten. Die tausendfach höhere Zahl an Menschen, die weit unter ihren Möglichkeiten bleiben, ist gesellschaftlich unsichtbar.
Survivorship Bias ist eine verzerrte Wahrnehmung, die mir im medizinischen Sektor begegnet ist: „Oh, Krebsdiagnose? Vergiss Chemo und all das Gift. Ich kenne einen Arzt, der verschreibt hochdosiert Vitamin C und das hilft! In seiner Praxis hängen zig Dankesschreiben von genesenen Patienten!“
Ja, klar: Die Toten schreiben auch keine Briefe um zu sagen: Doofe Nummer. Übrigens: Steve Jobs ist einer von diesen Toten.
Warum ist das politisch? Weil unser Schulsystem generell (aber aktuell besonders) die Schwächsten abhängt.
Nachhilfe? – nicht staatlich vorgesehen, sondern ein teures Geschäft. Eigenverantwortung. Leisten kann sich das, wer Geld hat.
Kein ruhiges Zimmer für Hausaufgaben? – Eigenverantwortung!
Fazit: Das Schulsystem ist auf Klassenerhalt ausgerichtet.
IV. LEHRER:INNEN
Deshalb bin ich als Lehrer in diesem System äußerst skeptisch, wenn mir bunte Instagram-Bildchen versprechen, mit einer fancy App hier, einem Zoom-Talk dort und etwas achtsamer Meditations-Routine bekämen wir den Karren schon aus dem Dreck…
Seit 30 Jahren werden Lehrer:innen mit immer mehr Aufgaben überhäuft. Absurde Bürokratie in x-facher Buchhaltung, Kümmern um Schüler:innen, die durchs Netz fallen, Elternarbeit, Projekte & Baustellen überall. Der Unterricht verkommt phasenweise zur Nebenbeschäftigung
Wenn Lehrer:innen phasenweise 50-, 60-, 70-Stunden-Wochen leisten, überraschen die Burn Out-Quoten oder lustlose Unterrichtsstunden kaum. Und da geht es nur darum, das marode System über den Alltag zu retten. Zeit für Weiterentwicklung oder -bildung sehe ich da nicht. Und man muss ehrlich sein: Unter uns Lehrer:innen gibt es nicht nur innovative, flexible Gestalter:innen. Selbst wenn die Zeit da wäre, will sich auch nicht jeder weiterbilden.
V. GESELLSCHAFT
Wie hochgradig fragil und dysfunktional dieser zusammengeschusterte Trümmerhaufen ist, hat die Öffentlichkeit während der Pandemie erlebt (Brennglas-Metapher hier einfügen). Dabei hat früher oder später ja jede:r mit der Schule zu tun. Warum passiert nix?
Die verzerrte Berichterstattung vieler (nicht aller) Medien hat gezeigt, dass ein Großteil der Gesellschaft Schule als System nicht durchblickt. Die Erwartung vieler Eltern ist, dass ihre eigene (in der Rückschau positive) Schulzeit für ihre Kinder nachgestellt wird.
Innovationen, wie digitale Geräte („daddeln!!!1“), Inklusion, demokratisch organisierter, offener Unterricht („Machen, was sie wollen!!!1“) usw. sind schwer zu vermitteln. Im Prinzip soll Goethes „Werther“ gelesen und der Dreisatz geübt werden. Uns hat es ja auch nicht geschadet.
VI. FAZIT: Das Schulsystem ist kaum zu retten.
Ist das Schulsystem noch zu retten?
Kurzfristig garantiert nicht, da zu viele Player am Tisch sitzen. Wir sehen außerdem in der Pandemie, dass die Politik v.a. an wirtschaftsverträglicher „weiter so!“-Kinderbetreuung interessiert ist. Da kommt nix.
Ich will einzelnen Schulen, die mit einem Mordsaufwand mitunter grandiose Konzepte entwickeln, nicht die Motivation nehmen. Realistisch ist aber: Die flächendeckende Umsetzung solcher (offeneren, digitalen…) Konzepte scheitert an Elternerwartungen, Politik und Geld.
Wirkliche Veränderung, die Lehrer:innen und Schulleitungen Zeit und Muße für Weiterentwicklung verschafft, Schüler:innen mehr beteiligt und bauliche und hygienische Mindeststandards der Schulgebäude sichert, wäre ein gesamtgesellschaftliches Projekt – im Interesse aller.
Diese Zusammenarbeit von Schulleitungen, Eltern, Schüler:innen, Lehrer:innen und Politik existiert mitunter regional. Das große Gemeinschaftsprojekt sehe ich nicht. Bis es das gibt, verwalten Jurist:innen und Makler:innen leider nur einen (ungerechten) Status Quo
Ich widerspreche. Die Grundidee ist völlig o.k., leider sind wir z.Zt. nur zu polarisiert. Einerseits schreien alle nach Individualisierung und beweinen gleichzeitig 16 Bildungsministerien. Wir könnten uns sofort auf einen gemeinsamen Nenner über die KMK einigen, wenn wir denn wollten. Gerne können sie mich als Fachkraft hinzuziehen, schließlich sind Beraterverträge in der Politik Gang und gäbe. Die Infrastruktur zu erneuern ist eine riesige Aufgabe. Wenn das Klo bröckelt, ist das kein zumutbarer Zustand und ich frage mich jedes Mal wieso es hingenommen wird. Verantwortungsdiffusion? LuL sind keine Zauberer. Eine WB oder FB pro Jahr und Hospitationen sollten Pflicht sein. Für mein Extraengagement will ich nicht nur Ruhm und Ehre, sondern Minusstunden oder Gehalt sehen. Etwas neu zu denken ist schwer. Wenn wir mit Eltern im Dialog bleiben, kann sich noch mehr ändern. LuL müssen heute ihren Unterricht rechtfertigen(erklären), wo sie früher unbehelligt Willkür betreiben durften. Schule soll eine Chance sein, nicht jeder wird sie nutzen. Helfen würde ein Mittagessen für alle, keine Bücher, die man kaufen muss (in Sachsen nicht) und eine andere HA-Kultur. Wenn Eltern keine Hilfe beim Plakat sind, setzt sich Bildungsarmut fort. Wir könnten aber Eltern einladen, ihre Stärken einzubringen, ihren Beruf vorzustellen, etc. um Schule zum Dorfmittelpunkt zu machen. Unterricht gehört auch dazu, doch er hat so viele Vorraussetzungen, damit er gelingen kann. Schulzozialarbeit, Hausmeister etc. können nicht nur an ein, zwei Tagen abrufbar sein.