Im kleinen Rahmen sind Klassenfahrten auch immer Grenzerfahrungen. Manche Kinder waren noch nie von zu Hause weg, Klassenfahrten in der Grundschule sind vielleicht wegen Corona ausgefallen. Manche Kinder sprechen kaum Deutsch und sollen jetzt mit wildfremden Menschen und ganz allein tagelang auf Reisen gehen. Manchmal haben die Eltern so große Angst um ihre Kinder, dass sie es nicht schaffen, diese loszulassen. Mit Ansage fehlen die Kinder krankheitsbedingt vom Tag der Abreise an. Abends, wenn man müde ist und alle laut und der drölfzigste Spaßvogel gegen die Tür klopft, wird das Heimweg groß und das Nervenkostüm klein.
Bei den Kleinen ist so eine Klassenfahrt immer auch dafür da, solche Grenzerfahrungen zu machen und ich bin ein Freund davon. In geschütztem Rahmen schauen, ob man vielleicht einen Blick hinter den eigenen Horizont werfen kann.
Meine Gruselgeschichte gestern Nacht war auch so eine Grenzerfahrung. Mitten im Dunkeln, nur von einer einzigen Taschenlampe beleuchtet (wirklich! wie in einem schlechten Film) habe ich die Geschichte vom Silberbein erzählt. Während in der Ferne die Kraniche kreischten. Ich hatte gedacht, dass die Geschichte jederman bekannt ist, aber die mitgereisten Kolleg*innen haben mich nur mit großen Augen angesehen.
In Kurz: Ein alter Graf mit einem Holzbein aus Silber ist verstorben. Der Diener, Zeit seines Lebens schlecht behandelt, klaut dem Grafen das Silberbein und versteckt es unter seinem Bett. Nachts hört er das Tok-Tok-Tok des Grafen und die wispernde Stimme „Wo ist mein Silberbein“. Schön asthmatisch-röchelnd erzählt. Der Diener versteckt sich unter der Bettdecke, Stimme und Tok-Tok kommen immer näher. „DA IST MEIN SILBERBEIN“ schreit es schließlich. Typisch für eine Gruselgeschichte: Die Zuhörer immer ruhiger werden lassen, immer leiser erzählen und am Schluss mit einem Paukenschlag enden.
Für manche war schon nach dem ersten Satz Schluss, andere haben die Geschichte genossen, sind hinterher aber doch mit fest zusammengepressten Lippen im Dunkeln nach Hause gewandert. Nach und nach haben sich dann doch alle beruhigt und gehen kichernd nach Hause. Kurz, bevor wir unsere Jugendherberge erreichen, stehen wir mitten Wald vor einem Haus. „Hier wohnt der Graf“, wispert ein Kind. Und unser treuer Schulbegleitungsassistent – eine unschätzbare Hilfe im Unterricht – röchelt aus dem Dunkeln: „WO IST MEIN SILBERBEIN!“
Große Augen, bleiche Gesichter.
Grenzerfahrung. Zwei Mädchen beginnen lautstark zu singen, um ihre Angst zu verdrängen. Einen Tag später lachen alle drüber. „Hätte ruhig noch gruseliger sein können!“ Ja, klar. Jetzt wissen wir auch, dass das Haus im Wald das Vereinshaus neben dem Fußballplatz ist.
Nach einer kurzen Nacht mit zig Ermahnungen und kichernden Kindern, die in Schlafanzügen durch die Gänge huschen, sind wir heute morgen Im Kletterwald gewesen. Wieder eine Grenzerfahrung. In Gruppen aufgeteilt durfte in gewaltige Höhen geklettert und an Seilen über den Wipfeln geschaukelt werden. Für den ein oder anderen war das zuviel. Stop heißt Stop.
Nachmittags dann Gruppenspiele.
Meine Klasse ist sehr, sehr stark im Miteinander – wenn meine Co oder ich vorne stehen, und für Disziplin sorgen. Die Aufgabe des Nachmittags war, einen Stift hinter einer Linie aufrecht hinzustellen. Selbsredend durfte der Boden hinter der Linie nicht berührt werden. Wir teilten drei Gruppen auf – sie sollten sich alleine eine Strategie überlegen, testen und dann wiederkommen. Ein Wettbewerb.
Wirklich spannend ist, dass dieses Spiel kolossal scheiterte: Schon nach wenigen Minuten zankten und schimpften alle mit- und gegeneinander. Die Jungsgruppen ebenso wie die reine Mädchengruppe. Nach zehn Minuten kamen die ersten Kinder mit Tränen in den Augen zurück und beschwerten sich, dass niemand zuhörte und alle nur schreien würden. Grenzerfahrung.
So stark meine Klasse im sozialen Miteinander ist – auf sich alleine gestellt fallen sie in alte (kindliche) Verhaltensmuster. Und damit ist das genau die Stelle, an der wir arbeiten müssen. Das zehnte bunte Bälle-Spiel nützt nichts, wenn die Kinder in meiner Gegenwart ruhig sind, zielorientiert denken und sich respektvoll begegnen. Die Nummer muss ohne Lehrkraft vorne laufen. Und das tat sie nicht. Überhaupt nicht.
Grenzerfahrung.
Ich halte diese Form der Selbstregulierung einer Klasse für die schwierigste Aufgabe überhaupt.
Eine Gruppe, die eigenständig zur Ruhe kommt, einander zuhört und Lösungsvorschläge für Probleme diskutiert und ausprobiert, bewältigt gemeinsam jedes Lernbüro, jede Klassenarbeit und jedes Projekt. Und auch jedes pädagogische Team-Spiel, dass ich ihnen vor die Nase setze.
Aber der Weg dahin ist noch weit für meine fünfte Klasse. Ich bin froh, dass wir an dieser Stelle gescheitert sind. Sie sich gerieben haben. Das schärft den Blick für das eigene Vermögen und Unvermögen. Eine Grenzerfahrung.
Abends dann noch Disko und Party – die Klassenfahrt soll schließlich mit guter Laune enden. Mit meiner Co wechsle ich mich zwischendurch ab – jeder gibt dem anderen auch mal eine Stunde Auszeit (ja, ganz recht: Von Disko und Party bin ich ausgeladen. Der Höflichkeit halber habe ich so getan, als wäre ich traurig – aber in Wirklichkeit bin ich total dankbar!).
Zwischendurch der übliche Kleinkram: Hier ist ein Schlüssel verschwunden. Dort hat jemand gesehen, wie jemand Süßigkeiten geklaut hat. Hier hat jemand wild gegen die Tür getreten und dort haben drei Kinder Streit. Bei knapp 100 Kindern ist rund um die Uhr Hoscha. Nachts haben die besonders Vorlauten natürlich rote Augen in den Bäumen leuchten sehen. „Ich schwör auf meine Mutter, Herr Klinge!“
Die Nacht verbringe ich erneut auf dem Fußboden – die Betten sind einfach zu kurz. Katholisches Eremitendasein. Ich betrachte es als Lektion in Sachen Demut.
Wenn morgen alle Kinder unverletzt wieder zu Hause sind und ich bin mein eigenes Bett fallen kann, mache ich drei Kreuze. Diese Art der Grenzerfahrung merke ich nämlich inzwischen in meinen Knochen.