Morgen früh habe ich die Gelegenheit, im ARD Morgenmagazin etwas zum Thema „Lehrermangel“ zu erzählen. Diese Möglichkeiten sind immer auch ein Tanz auf der Rasierklinge und ich nutze diesen Blogartikel (wie so viele!) dazu, meine eigenen Gedanken zu strukturieren.
Medienauftritte sind zweischneidig
Grundsätzlich habe ich bei einem Auftritt im Fernsehen (noch dazu live) wenig zu gewinnen. Mein Job wird morgen noch der gleiche sein und ich werde weder besser bezahlt noch gewinne ich an Reputation oder Einfluss.
Umgekehrt dagegen ist der die Aufgabe von Journalisten, aus ihren Gästen möglichst prägnante, spannende Wortbeiträge herauszukitzeln: „Lehrer sind faule Säcke“ zum Beispiel oder dass Lehrer sich „mit teils windigen Begründungen ihrer Aufgabe entledigen“ (Quelle).
Ein unbedachter Satz und ich habe mir Freunde für die Ewigkeit gemacht – entweder auf Seiten der Politik oder der Lehrerschaft oder der Elternschaft. Wie immer wird es auch Leute geben, die mit den Augen rollen („Der schon wieder!“) und nicht fehlen werden die „Wenn dieser Lehrer Zeit hat, Bücher zu schreiben, kann der Job ja nicht so anstrengend sein“-Kommentare.
Kurz: Zu gewinnen gibt es wenig. Außer Erfahrung.
Und einer Gelegenheit, das Thema „Lehrermangel“ im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern.
Lehrermangel aus mehreren Perspektiven
Für mich ungemein hilfreich ist, dass ich den Aspekt des Lehrermangels aus verschiedenen Perspektiven erlebe.
Als Lehrer muss ich damit umgehen, stets an der Belastungsgrenze zu arbeiten. An einer großen Schule mit 100 Kolleg*innen fehlen zu jedem Zeitpunkt krankheitsbedingt zwei bis fünf Leute. Das sind Stunden, die aufgefangen werden müssen von denen, die immer da sind. Die immer einspringen. „Wir haben keinen Informatiklehrer – kannst du das nicht fachfremd machen? Du kennst dich doch mit Computern aus.“
Als Teil der Schulleitung kenne ich die organisatorischen Zwänge: Wen dürfen wir überhaupt einstellen? Wer passt dazu? Welche Fächer brauchen wir dieses Jahr ganz dringend, welche vielleicht nächstes Jahr? Welchen Einfluss hat das auf das Bildungsangebot einer Schule?
Als Vater begegnet mir der Lehrermangel durch meine Kinder: „Die SportAG muss leider aufgelöst werden, weil die Lehrkraft ein festes Angebot an einer anderen Schule bekommen hat.“ „Gerne würden wir, wie in den letzten Jahren auch, XY anbieten, aber…“
Und selbst in meiner bescheidenen Rolle als Politiker erkenne ich die Herausforderung: Mittel sind nur begrenzt da und wenn ich den Schulen mehr Geld zuweise, muss ich es jemand anderem wegnehmen. Und wem? (Gut, da hätte ich Ideen – aber dafür ist das Morgenmagazin der falsche Ort, hrhr)
Kurz: Ich kenne verschiedene Perspektiven des Problems und habe auch eine Ahnung davon, welche Möglichkeiten die einzelnen Gruppierungen überhaupt haben, das Problem anzugehen.
Lehrermangel beheben? Vier Ideen.
Der Lehrberuf ist unattraktiv, die angehenden Lehrkräfte wollen gerne ins Gymnasium oder die Grundschulen aber sonst nirgendwohin (Quelle). Wie lässt sich die Qualität der Bildung heben? Vier Ideen.
- Kürzt die Lehrpläne.
Mehr Gestaltungsraum und weniger Zwang. Bezeichnenderweise unterrichte ich „Arbeitslehre Technik“ am liebsten, weil wir interessengesteuert wilde Projekte verfolgen können, exemplarisch lernen und ich durch keine zentrale Abschlussprüfung gegängelt werde. Nirgendwo haben die Kinder (und ich) mehr Spaß. Der Kurs will ein halbes Jahr mehr Bautechnik machen? Kein Problem. Oder lieber Elektrotechnik? Machen wir! - Infrastruktur erneuern
Die allermeisten Schulgebäude stammen aus einer Zeit, in der mit 24 Kindern pro Klasse gerechnet wurde. Im gleichen Zimmer sitzen heute bis zu 31 Kinder, plus Lehrer plus Inklusionsbegleiter. Wie soll da konzentriert gearbeitet werden? Wir brauchen Räume. Viele Räume. Mit doppelt so viel Platz könnte ich sofort neue Lernorte erschaffen und z.B. die leistungsstarken Kinder einfach in Ruhe arbeiten lassen. - Multiprofessionelle Teams
In meiner Klasse habe ich zwei Schulassistenten, die große Freude an ihrem Beruf haben. In vielen Stunden sind wir drei Lehrer, die für Fragen zur Verfügung stehen, die einzelne Kinder ans Lernen erinnern oder – Ausrufezeichen, Ausrufezeichen – andere Lernorte öffnen: „Gruppe eins geht mit Herrn X ins Forum, Gruppe zwei mit Frau Y auf den Schulhof. Ich bleibe hier im Raum.“ Wir brauchen mehr, viel mehr solcher Leute in den Schulen. Leute, die z.B. die IT der Schule administrieren. Oder Verwaltungskram übernehmen. Stundenpläne bauen. Vertretungspläne organisieren. Wie viele (teuer bezahlte) Stunden Schulleitungen über Tabellen sitzen und statistische Werte übermitteln müssen, mag man kaum glauben. - Mehr Autonomie von Schulen
Viele Schulen leiden unter einer wahnsinnigen Verwaltung und Bürokratie. Braucht man drei neue Beamer, kann man die nicht einfach online kaufen – man muss bei der Stadt anfragen, Mittel beantragen im Zweifel muss das ausgeschrieben werden. Und die Jahre ziehen ins Land….
Hätten Schulen einfach Mittel X und könnten damit arbeiten, könnte man den Bedarfen viel schneller begegnen. Ein grünes Klassenzimmer bauen? Jo! Wir brauchen weniger/mehr Personal an dieser Stelle? Wir brauchen für unsere naturwissenschaftliche Ausrichtung dieses und jenes. Himmel. Das würde wahnsinnig viel Geld sparen, weil jede Menge Verwaltung wegfiele und man könnte Stadtteilschulen mit mehr Geld ausstatten als solche, die über einen reichen Förderverein verfügen.
Natürlich gibt es zahlreiche weitere Baustellen und Stellschrauben. Aber das ist ja nur ein Blogartikel, der meine eigenen Gedanken sortieren und nicht die Arbeit der KMK ersetzen soll.
Ist es denn wirklich so schlimm? Hört man nicht allenthalben, dass Lehrer in Deutschland so viel verdienen, wie sonst nirgendwo? Und ständig frei haben?
Die Kritiker haben recht. Und nicht. Anekdotische Evidenz macht es so schwierig.
Der Lehrer (und Autor) Ewald Arenz schreibt im Spiegelinterview, dass Lehrer sich ihren Stress selbst erzeugen. Für das Gefühl von Überlastung seien viele selbst verantwortlich.
Ewald Arenz hat recht.
Ich habe gar keinen Zweifel, dass er das in seiner Welt genauso wahrnimmt.
Das Problem ist, dass „seine Welt“ eine (heile) gymnasiale Welt ist. Ich stelle mir Ewald Arenz vor, der an eine Brennpunktschule im Ruhrpott abgeordnet wird und plötzlich vor 30 Kindern steht, die zu weiten Teilen kaum deutsch sprechen, aber in der Sprache der Beleidigungen ganz gut bewandert sind. Ich frage mich, wie Arenz Stress an einer Grundschule erleben würde, die sich die Sekretärin und den Hausmeister mit zwei anderen Grundschulen teilen muss, wenn dann einzelne Kinder neben die Toiletten kacken und der Cristof aus der 3a in den Raum gekotzt hat, während die Schulleiterin gleichzeitig unterrichten und Telefondienst schieben muss.
Eigenverantwortliche Überlastung? Solche Sprüche wirken wie Hohn.
„Lehrer sind faule Säcke. Mein Nachbar….“
Ja. Unbesehen. Die gibt’s. Anekdotische Evidenz hat immer recht. Und ist Bullshit.
Denn sie ist immer auch ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die sich nachmittags mit Sachbearbeitern vom JobCenter auseinandersetzen. „Arbeitsaufwand, den kein Außenstehender sieht“ schreibt eine Lehrkraft auf Twitter.
Den gegenwärtigen Zustand unseres Bildungssystems und auch den aktuellen „Lehrkräftemangel“ betrachte ich als große Krise – und als gewaltige Chance. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, echte Veränderung durchzuführen.
Kurz: Zu gewinnen gibt es wenig. Aber es bietet sich eine Gelegenheit, das Thema „Lehrermangel“ im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern. Und die sollte ich nutzen.
Wohlgeschrieben. Seit ich von multiprofessionellen Teams gehört habe, steht das auf meiner Wunschliste ganz oben – und gleichzeitig fühle ich mich in Bayern maximal weit davon entfernt.