Mein Projektunterricht bereitet mir große Freude, weckt aber auch den Wunsch nach einer Schule ohne Noten.
Mein Physik-Grundkurs verfolgt eine Projektidee, die ich dem amerikanischen Physik-Twitterlehrerzimmer entnommen habe: Ein Wagen rollt eine Rampe herunter – darauf steht ein altes Filmdöschen. Wenn der Wagen gegen ein Hindernis prallt, kippt das Döschen um. Projektaufgabe: „Baue einen Airbag, der dieß Aufprallenergie so reduziert, dass das Döschen nicht umfällt.“
Die Schüler müssen ihre Überlegungen und Ideen in einem Worddokument festhalten. Die Gedanken gehen dahin, Form und Material des Airbags zu variieren und zu vergleichen. Zerknüddeltes Papier, Papier rollen quer oder längs, Schaumstoff, Baumwolle. Es darf sich ausprobiert werden.
Weil ich der ewigen PowerPoint-Präsentationen überdrüssig bin, fordere ich ein Word-Dokument ein. Dabei üben wir Textformatierung, das Einbinden von Fotos und ein ordentliches Schriftbild.
Ein Schüler verfolgte einen anderen Ansatz, den ich gar nicht bedacht hatte: Er berechnete die Geschwindigkeit des Fahrzeugs auf dem Weg nach unten. Anschließend senkte er die Rampe immer weiter ab, bis der Wagen so langsam wurde, dass das Filmdöschen nicht umkippte. Erneut berechnete er die Geschwindigkeit (v=s/t).
Sein Ansatz: Wie kann ich den Wagen so sehr verlangsamen, dass der Insasse (das Filmdöschen) geschützt ist? Der Gedanke an das Kiesbett einer LKW-Notfallspur liegt nahe.
Ich war überrascht von der Idee – wie immer, wenn man plötzlich außerhalb seines eigenen Horizonts landet. Tolle Idee und viele der Schüler finden Gefallen am planen, forschen, experimentieren. Auch, wenn es anstrengend ist.
Noch größer ist die Forscherlust in meiner fünften Klasse. Dort steht die Dokumentation aber auch weit hinter dem Spielerischen. Wir gingen der Frage nach, ob die Säure in Coca-Cola wirklich Zähne bzw. Knochen auflösen kann.
Kompetenzorientierter Unterricht?
Nebenbemerkung: Ich streife ein klassisches Dilemma der Schule: Geht es nur um die Antwort? Dann lässt sich die Information binnen weniger Minuten ergoogeln. Die experimentelle Umsetzung kostet Zeit und ist ineffektiv. Aber was genau, also welche Fertigkeiten und Fähigkeiten möchte ich den Kindern beibringen?
Dazu zwei spannende Perspektiven:
Professor Dr. Bernhard Krötz von der Universität Paderborn ging die Tage mit einem Video „viral“, indem er die Anforderungen des Mathematik-Zentralabiturs mit den Anforderungen indischer Abiturienten und auch der Abschlussprüfung der Realschule von 1971 vergleicht. Tenor: „Das Abitur ist geradezu lächerlich leicht.“
Der Rektor der Universität Münster, Professor Dr. Johannes Wessels, beklagt gleichzeitig (Quelle 1, Quelle 2) die Inflation der Einser-Abiture. Allerdings – so verstehe ich ihn zumindest – ist sein Ansatz nicht, dass das Abitur zu leicht geworden ist. Problematisch sei, dass die Schule sich nahezu ausschließlich auf ein „teaching to the test“ konzentriere, also Prüfungsvorbereitung. Wesentliche Kompetenzen, wie das eigenverantwortliche Lernen, würden unter den Tisch fallen. Aus diesem Grunde seien die Studierenden an den Universitäten oft heillos überfordert.
Was genau soll ich meinen Schülerinnen und Schülern beibringen?
Die Antwort auf die Frage, ob Cola Knochen zersetzt? Oder den Weg dahin? Versuchsprotokoll entwickeln (oder nur vorgeben?), Experiment ausdenken (oder vorgeben?), Durchführung planen (oder vorgeben?).
Zur Freude der Kinder entschied mich für den langen, experimentellen Weg. Also Eier besorgt, verschiedene Varianten von Cola, dazu Essig und Zitronensäure. (Nebenbemerkung: Nach dem Unterricht dann spülen, reinigen und aufräumen – Aufgaben, die man oft nicht mit „Unterricht“ verbindet.)
Mit fünfundzwanzig Kindern zu experimentieren ist immer noch langsamer, noch lauter und noch aufwändiger und anstrengender. Das sind Stunden, in denen ich häufig mit den Zähnen knirsche, weil es wirklich laut ist. Die Schülerinnen und Schüler sind aufgeregt, bestaunen und bewundern die Exponate anderer Gruppen und erzählen sich gegenseitig lautstark, was sie beobachtet haben. Aber klar: Ist auch aufregend. Und eklig.
Es ist Unterricht, wie ich ihn eigentlich liebe: Langsam und intensiv, alle die meisten sind mit Herzblut dabei. Bei solchem Unterricht denke ich, es wäre doch schön, wenn es keine Noten gäbe. Dann könnte man einfach weitermachen. Tiefer forschen. An der Methodik feilen.
So schön, solchen Unterricht möchte ich auch gerne Mal machen Bei mir ist es andersherum, es gibt (Neben-) Fächer ohne Noten und festen Lehrplan, aber die Lehrer beschweren sich eher dass sie kein Druckmittel haben/die Schüler sich keine Mühe geben. Allerdings eignen sich diese Fächer leider auch nicht für sowas, glaube ich.
Aber wozu Word? Bei sowas ist Latex doch viel geeigneter und später auch relevanter (aber ja, auch mit Word umgehen lernen kann ja nicht schaden)