Der zweite Tag der Bildungsforschungstagung hat mich umgehauen. Wirklich.
Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen (oder akzeptieren?), dass die Forschungstagung von Wissenschaftlern für Wissenschaftler ist und gestern eher von der Politik gekapert wurde. Man sehe es mir nach – es war meine erste Bildungsforschungstagung. Ich bin nicht Zielgruppe. Nachdem ich mich einmal von dem Gedanken verabschiedet habe, hier konkrete Anweisungen für die Schulpraxis zu erhalten, konnte ich das als persönliche Fortbildung genießen. Und, Jesus, was für Einblicke waren das!
Ich bilde mir ein, dass die Tagung ein wenig davon profitiert hat, dass der politische Balztanz abgehakt war. In Gesprächen zwischen Tür und Angel konnte ich heraushören, dass ich nicht der einzige war, der den gestrigen Tag eher kritisch empfand – das beruhigt dann doch ein wenig. Heute ging es nur noch um Forschung, Kommunikation, Austausch.
Den Auftakt machte ein toller Vortrag von Professorin Christiane Spiel von der Universität Wien, die anschaulich illustrierte, wie schwierig der Weg von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis ist. Die Vielzahl an Playern und Faktoren macht die Umsetzung jeder noch so kleinen Idee zu einem zeitraubenden Prozess. Das ist frustrierend – aber nachvollziehbar.
Im Anschluss habe ich mich in das Fachforum „Wie sieht der Unterricht von Morgen aus?“ gesetzt.
Benjamin Jörissen hat einen schlicht unfassbar guten Vortrag über die Funktionsweise von Künstlicher Intelligenz im Allgemeinen und von chatGPT im Besonderen gehalten. Ein echter Brainfuck. Wow!
Angefangen mit den Grundfunktionen neuronaler Netzwerke über eine brillante (farbcodierte) Visualisierung von stochastischen Verknüpfungen von Worten bis hin zu den konkreten Gefahren von Künstlichen Intelligenzen. Schlicht Wow.
Wann immer irgendwer die Gelegenheit hat, einem diesbezüglichen Vortrag von Jörissen beizuwohnen – absolute Empfehlung! Entscheidender Punkt zum Schluss: „KI geht nicht mehr weg. Wir müssen uns damit beschäftigen.“
Danach ein Vortrag von Andreas Schleicher, dem Koordinator der PISA-Studien über die Zukunft der Bildung. Als jemand, der schon die ein oder andere Schule von innen gesehen und viele pädagogische Konzepte betrachtet hat, bilde ich mir zuweilen ein, nicht den kleinsten (Schullandschafts-)Horizont zu haben: Diesbezüglich ist es wirklich spannend, jemandem zuzuhören, der durch die Bildungssysteme der ganzen Welt wandert und, scheinbar aus dem Handgelenk, Entwicklungsschritte und Ideen von hier bis dort einwirft. Nochmal Wow.
Den Abschluss bildete Schulleiterin Katharina Sadeghian von der Hans Alfred Keller Schule aus Siegburg, die gemeinsam mit der Schulamtsdirektorin und dem Bürgermeister von Siegburg aus dem Schulentwicklungsprozess ihrer Schule berichtete. Da möchte ich gerne hospitieren: In der Schule, um den Alltag kennenzulernen. Bei der Schulleitung, um zu sehen, wie sie ihren Change-Prozess umgesetzt haben und ehrlicherweise auch im Rathaus, um zu sehen, wie der Bürgermeister die Bildungsvisionen in die Praxis umzusetzen. Wow. Wow. Wow.
Nach der Mittagspause saß ich dann mit klugen Menschen (unter anderem Prof. Birgit Eickelmann und dem Vorsitzenden des Landesschülerausschusses Berlin Aimo Görne) auf der Bühne und durfte in der Abschluss-Panel-Diskussion die Perspektive der Schule bzw. Schulleitung einbringen.
Ob mir das gelungen ist? Keine Ahnung. Als Sprecher ist man zu involviert, um das auch nur halbwegs objektiv beantworten zu können. Ich hoffe es.
Als Schulleitungsmitglied sitze ich genau zwischen der Praxis der Lehrkräfte und den Erkenntnissen der Forschung. Mein Job ist es auch, Schulentwicklung auf Basis von Forschung (die ich kennen muss) zu betreiben und dies in die Praxis zu vermitteln.
„Herr Klinge, was stimmt Sie hoffnungsvoll?“, war die abschließende Frage von Moderator Armin Himmelrath.
Hm.
So sehr ich hinter dem intensiven Schulentwicklungsprozess meiner eigenen Schule stehe, so sehr ich Projektunterricht, Werkstätten und Lernbüros unterstütze – diese Insellösungen können nicht die Lösung sein. Eigentlicher Adressat der Forschung muss die Politik sein, die das Erforschte in konkrete Gesetze und Erlasse gießt. Ich finde: Analog zum Klimawandel. Einige Leute leben vegan, einige Firmen sind engagiert klimaneutral – aber das sind immer nur Einzelne. Die Politik ist aufgerufen, Gesetze zu verantworten, die den Klimawandel auf breiter Basis bekämpft. Die Politik ist aufgerufen, Bildung zu verbessern.
Wie zuversichtlich bin ich? Hm. Hm.
Der zweite Tag lässt mich ein wenig bedauern, dass ich mich gestern so harsch geäußert habe.
Aber nur wenig – denn die Vermischung von Bildungsgipfel und Bundesforschungstagung war in vielerlei Hinsicht unglücklich und dieses Empfinden wurde an einigen Stellen geteilt. Der Bildungsgipfel war mau, die Bildungsforschungstagung toll. Und das, obwohl ich nicht zur Zielgruppe der Adressaten gehöre. Jetzt aber geht es zurück in die Praxis: Zweieinhalb Wochen noch bis zu den Osterferien und mein Schreibtisch biegt sich unter der Arbeit*. Und wenn die Bahn mich nicht im Stich lässt, komme ich auch heute noch zu Hause an und mein Unterricht morgen wird nicht ganz unterirdisch.
* Ist natürlich metaphorisch gemeint: Digitale Arbeit wiegt nichts und sieht nach nichts aus.
Lieber Jan-Martin,
vielen Dank für den tollen Austausch. Der fünfte Geburtstag vom Forum Bildung Digitalisierung hätte dir sicherlich auch gut gefallen.
Gibts denn diese Vorträge irgendwo online?
Leider nein 🙁
Andreas Schleicher werde ich auf dem BiKo23 in Heilbronn am Samstag kommende Woche hören, ich bin gespannt. „Bildungs-Welten-Wanderer“, so freue ich mich nun auf ihn. Danke für den Bericht.
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