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Von „Alle Zeit der Welt“ zu „Wir haben doch keine Zeit!“

Von "Alle Zeit der Welt" zu "Wir haben doch keine Zeit!" 1Aus der Zeit der Jahrhundertwende (also… das vorletzte Jahrhundert) gibt es eine Reihe von Postkarten die veranschaulichen, wie sich die Menschen aus dem jahr 1899 das Jahr 2000 vorstellten. Fliegende Feuerwehrleute, Putzroboter im Haushalt, Menschen reisen mit Heißluftballons durch die Stadt. Hier eine anschauliche Sammlung aus jener Zeit.

Hier und da sah die Prognose vor, dass die Menscheit mit zunehmender Effizienz an Zeit gewinnen würde. Wer für die gleiche Arbeit nur noch halb soviel Zeit brauche, könne den Rest ja frei machen. Die Menschheit sah einer Zukunft des kulturellen Reichtums und endloser Freizeit entgegen.

Nun, wir wissen, wie die Geschichte weiterging.

In Wirklichkeit glauben wir, immer weniger Zeit zu haben. Die gymnasiale Schulbildung wurde im Bestreben, die Jugendlichen schneller auf den Arbeitsmarkt zu werfen, um ein Jahr verkürzt. Während ich noch aus einer Zeit stamme, in dem man sich während des Studiums auch mal – je nach Interesse – in fremde Vorlesungen setzte und seine Nase mal hierhin, mal dorthin steckte, ist auch das heute passé: CreditPoints und ein straff geplantes Vorlesungsverzeichnis mahnen zur Eile. Einfach mal vier, fünf oder zehn Semester länger brauchen? Früher völlig üblich.

Diese Hetze tut niemandem gut – alle wissen das, aber niemand mag etwas dagegen tun. Auch das Schulsystem leidet darunter. Wir bräuchten dringend mehr Zeit. Mehr Ruhe. Mehr Freiraum.

Meine mittlere Tochter verschlingt Dokumentationen von ‚Checker Tobi‘, ‚Pur+‘ oder ‚Wissen macht Ah‘. Ständig nervt erklärt sie uns, welche sensationellen Erkenntnisse sie gemacht hat und freut sich, wenn sie dem Rest der Familie Neues erzählen kann. Weil sie neulich etwas über das Insektensterben gesehen hat, haben wir heute ein Insektenhotel gebaut. Eine richtige Insektenritterburg.

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An einem möglichst sonnigen Plätzchen, damit der Bau trocken bleibt. Aber direkt am Bach im Garten, damit die Insekten auch etwas zu trinken finden. Es ist bestimmt nicht der praktischste, aller Bauten, aber das Bewusstsein für Umwelt und Natur ist präsent.

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Alles an alten Steinen, die heir noch rumlagen, haben wir verbaut und die ersten Bewohner auch schon begrüßt. Obwohl wir vermuten, dass eine große Kolonie von roten Ameisen, die sich hinter dem Bauwerk im Boden tummelt, vermutlich in den nächsten Tagen und Wochen die ganze Burg übernehmen wird.

Von "Alle Zeit der Welt" zu "Wir haben doch keine Zeit!" 4Gestern hat sie außerdem eine Dokumentation über ’nicht newtonsche Flüssigkeiten‘ gesehen und wollte das unbedingt selbst ausprobieren. Sie hat mit ihren acht Jahren direkt recherchiert, wie man das mit Haushaltsmitteln nachmachen kann.

Allen diesen Dingen ist gemein, dass sie Zeit und Ressourcen kosten. Viel Zeit. Und viele Ressourcen. Beschenkt jene Kinder, die das haben.
Aber ich denke an jene meiner Schülerinnen und Schüler, die diesen Luxus nicht geniessen. Deren Bedürfnissen ich im schulischen Kontext nicht  gerecht werden kann. Die von Klassenarbeit zu Klassenarbeit hetzen (müssen) und sich mit Inhalten beschäftigen (müssen), die sie eigentlich nicht die Bohne interessieren.

Das Tragische ist, dass wir eigentlich viel, viel mehr Zeit zur Verfügung haben könnten. Niemand muss mehr von Hand die Wäsche waschen. Felder nicht mehr händisch geernet werden und keiner muss mit dem Pferd in die nächste Stadt reiten. Alles geht rasend schnell. Wir könnten in einem Zeitalter des kulturellen Überflusses leben.

Eigentlich gibt es Zeit genug.

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6 Gedanken zu „Von „Alle Zeit der Welt“ zu „Wir haben doch keine Zeit!““

  1. Letztlich hängt das eben auch mit unseren materiellen Wünschen und unserem Freizeitverhalten zusammen. Wenn wir leben würden wie im ausgehenden 19. Jahrhundert – mit viel weniger Wohnraum pro Person, ohne Auto, ohne teure Reisen, ohne teure Unterhaltungselektronik und nur mit den Haushaltsgeräten, die wirklich Zeit einsparen -, wenn wir also wirklich nur unsere absoluten Grundbedürftnisse befriedigen würden, dann kämen wir auch mit weniger Geld aus. Dafür müssten wir dementsprechend weniger arbeiten und hätten dann auch deutlich mehr Zeit zur Verfügung.

    Aber wer will schon auf all das oben Genannte komplett verzichten? Letztlich kommt es darauf an, eine gewisse Balance zu finden: Ausreichend viel arbeiten, damit sich den ein oder anderen kleinen Luxus leisten kann – aber nicht so viel, dass gar keine Zeit mehr bleibt, um diesen auch zu genießen.

  2. „Nun, wir wissen, wie die Geschichte weiterging.“

    Ja, ungefähr so, wie man 1899 spekulierte: die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit in der Industrie, damals nicht ganz 68 Stunden, liegt jetzt bei ~ 38 Stunden. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit insgesamt (unter der Berücksichtigung von Voll- und Teilzeit) liegt sogar mit knapp 35 Stunden bei ungefähr der Hälfte.

    Zwar arbeiten wir nicht die Hälfte – aber dafür haben wir einen völlig unvergleichbaren Lebensstandard. Würde uns derjenige des ausgehenden 19. Jahrhunderts reichen, müssten wir noch viel weniger arbeiten.

    Insofern: Wir haben bereits viel, viel mehr Zeit als damals, und viel, viel mehr Komfort und Möglichkeiten. Dass all das natürlich viel, viel zu wenig erscheint, ist der Lauf der Welt – und wäre bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden vermutlich nach einigen Jahrzehnten nicht anders.

  3. Im späten 19. Jahrundert ließ sich gut mit wenig leben, glaube ich, wenn man ein europäischer Großbürger war, oder wenigstens eine Schicht darunter, wo man ein- oder zweimal im Jahr die Weißnäherin hat kommen lassen und nur vielleicht ein Dienstmädchen hatte. In den Arbeiterslums sah es schon schlechter aus.

    Aber ich stimme voll zu, wir könnten alle mit viel weniger auskommen und wären mit viel weniger zufrieden. Sofern, glaube ich, man wenigstens genauso viel hat wie der Nachbar, das halte ich für die vielleicht nicht angeborene, aber soziale Natur des Menschen. Daraus folgt aber wohl eine Inflation des Lebensstils.

  4. Danke für den – wie immer – sehr schönen Artikel! Ich hatte vor ein paar Tagen genau denselben Gedanken. Wie hat man in den 80ern der Personal Computer in den Betrieben gefeiert als Arbeitserleichterungsmaschine, mit der die Arbeit in der Hälfte der Zeit erledigt ist. Wer kennt noch die ganzen Werbeplakate mit den Bürohengsten, die entspannt die Füße auf dem Schreibtisch hochlegen, Hände hinter dem Kopf verschränkt, und der PC stolz im Fokus der Anzeige, der dieses Glanzstück verbracht hat. Aber in Wirklichkeit kam es anders:
    Die freie Zeit wird einfach mit neuen Sachen zugeklatscht. Efficiency is king.
    Und so wird es auch mit jeder anderen Technologie so sein. Die Arbeitszeit, die uns ChatGPT spart, wird einfach mit neuen Aktivitäten zugekleistert. Wir werden ja nicht fürs Rumsitzen bezahlt… auch wenn manch einer das von den Lehrern ja glaubt 😉

  5. Denke nicht dass wir allgemein weniger Zeit haben als vor 30/40 Jahren. In der Zeit aus der Sie kommen, hatte man in Westdeutschland 9 Jahre am Gymnasium und konnte länger studieren. Das galt aber vermutlich zu 90% nur für die, die aus sozial höher gestellten Haushalt sind. Die meisten anderen haben genauso nach spätestens 10 Jahren angefangen zu arbeiten. Und heute hat man (in vielen Bereichen zumindest) sicher nicht längere Arbeitszeiten und schlechtere Bedingungen. Ich weiß auch nicht was der Sinn an einem zusätzlichen Jahr in der Schule sein soll, bei der Realität die in den meisten Schulen nunmal herrscht (bei euch vielleicht abgesehen).

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