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Früher™ war alles besser!

In den letzten Jahren hatten wir einen Australian Shepherd im Haus, der aufmerksam unter dem Babykörbchen meiner neugeborenen Töchter schlief. Ein Hund, der zuletzt abends nachsah, ob mit den Küken alles in Ordnung war. Ein Hund ohne Jagdtrieb, den ich ohne Leine und Halsband spazieren führen kann. Ein absolut perfekter Familienhund. Ein Selbstläufer, der im großen Garten alleine seine Runden geht.

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Seit ein paar Tagen haben wir einen Welpen: Der ist süß und schnuckelig. Die Tatzen sind im Verhältnis zum Körper viel zu groß. Das Fell so weich wie von einem Kuscheltier. Die Augen zauberhaft blau.
Aber das einzige, was sie kann, ist Dinge zerstören. Kinderspielzeug. Möbel. Schuhe. Alles wird angefressen und auf seinen Geschmack überprüft. Sadie ist wild und verspielt und genauso, wie man sich einen Hundewelpen vorstellt.

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In meiner Erinnerung war Bailey, die Alte, nicht so wild. Nicht so verspielt.

Aber das ist natürlich Quatsch: Bailey hat mehr Spielzeug zernagt, als alle meine drei Kinder gemeinsam zerstört haben. In den ersten Jahren ist sie bei jedem Waldspaziergang ausgeflippt, wenn wir anderen Hunden begegnet sind und wollte spielen, spielen, spielen. Mein erster Hund, aus Jugendtagen, hat unter anderem meine Zahnspange zerbissen.

Aber ich vergesse das. Ich erinnere mich nur noch daran, dass die Hunde auf Kommando pinkeln können. Das sie die Hühner eintrieben (Beweisvideo).

Aber die anstrengende Zeit der Erziehung? Die Zeit, als die Welpen exakt dahin gepieselt haben, wo sie gerade standen?

Wir haben auch Küken. Auch die sind zauberhaft – aber nach drei Wochen stinken die Tiere unfassbar nach Federvieh. Nichts, was ich in der Wohnung haben will. Außerdem muss der Stall täglich gesäubert werden. Futter und Wasser jeden Tag frisch. War das früher auch so viel Arbeit? Ich kann mich nicht erinnern.
Gestern habe ich die Brut ins Hühnergehege gesetzt. Die Nacht im Stall, gemeinsam eingekuschelt ins warme Heu ergab ein zuckersüßes Bild.

Aber heute Mittag fand ich die Bande piepsend durch den Garten stromern. Sie sind so klein, dass sie einfach durch den Zaun schlüpfen. Jedes noch so kleine Loch reicht, damit ein kleines Küken dadurch passt.

Früher™ war alles besser! 3Nun gibt es ein Hühnergehege im Hühnergehege. War das früher auch so anstrengend? Bestimmt nicht!

Immer wieder erliege ich dem Trugschluss, dass früher™ alles besser war. Einfacher.

Auch im Schulkontext begegnet mir diese Vorstellung des Öfteren: Die Kinder können dies und jenes nicht. Die Eltern machen dies und das nicht mehr. Früher hatten alle noch Anstand und Benehmen.

Ich denke dann beschämt an meine Grundschulzeit zurück. Als Lehrkräfte weggesehen haben, wo sie hätten hinsehen müssen. Nein, früher war nicht alles besser. Wenns um Erinnerung geht, mogeln wir alle. (‚Das Evangelium nach Wireman.‘ – viel Liebe, wer es kennt.)

Ich frage mich, ob und wie ich mich davon freimachen kann. Denn die ständige Einschätzung, früher sei alles besser – heute dagegen stünde der Untergang der Kultur kurz bevor, diese Wahrnehmung frustriert mich. Sie ist hoffnungslos und niederschmetternd.

Also verliebe ich mich neu in meinen Welpen. Der das Leben liebt und die Schuhe und das Kinderspielzeug und überhaupt alles. Gestern mehrere Minuten verblüfft die Fensterscheibe abgeleckt. Und ich freue mich über die Küken, die jeden Tag größer werden und Ausbrecherkönige sind, wie alle Hühnergenerationen vor und wohl auch nach ihnen.

Und ich freue mich jeden Tag wieder über meine Schülerinnen und Schüler. Mit denen ich Donnerstag einen Ausflug mache und Freitag einen langen Erste-Hilfe-Kurs. Die gerne in die Schule gehen und mir immer wieder spiegeln, wie gern sie in unsere Klasse gehen.

Nicht alles war früher besser. Manches war gut und ist auch immer noch gut.

2 Gedanken zu „Früher™ war alles besser!“

  1. „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer. (Sokrates, 470-399 v. Chr.)
    Es war schon immer so. Also war es früher weder schlechter noch besser. Jedenfalls was die Jugend und kleine Tiere betrifft. Nur wir werden älter und die Erinnerung lässt gnädigerweise nach und konzentriert sich auf das Gute. Das ist doch eigentlich ganz schön.
    LG Ulrike

  2. Am Sokrates-Zitat, sehr beliebt im Bildungsdiskurs, kann ich nie kommentarlos vorübergehen. Es belegt nicht, dass alles schon immer so war, vielleicht gibt es ja Phasen oder Wellen – wohlerzogene Jugend wechselt sich ab mit unerzogener. Aber das ist eh egal, Sokrates hat das nie gesagt, Platon auch nicht: das ist ein Mythos.

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