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Der „Digitalisierungswahn“ an Schulen lässt sich kaum kurieren.

Der "Digitalisierungswahn" an Schulen lässt sich kaum kurieren. 1Irgendein Schulpädagogikprofessor des Landes hat dieser Tage einmal mehr erkannt: An deutschen Schulen herrsche ein „Digitalisierungswahn“ und überdies seien „Schulbücher didaktisch wertvoller als digitale Varianten“. Und natürlich springen sämtliche Zeitungen darauf an.

Je länger ich über diese (und ähnliche) Aussagen nachdenke, desto irritierter bin ich: Gerade wir in Deutschland (!) sollen einem Digitalisierungswahn (!!) erlegen? Deutschland?? Das Land der „keine Kartenzahlung möglich“ und unendlichen Verwaltung?

Hm.
Ich habe eine Idee, wo dieser Gedanke herrührt.

Die deutsche Wikipedia umfasst etwa 2,8 Millionen Artikel, verfasst und bearbeitet von monatlich rund 6000 Autoren. Man stelle sich einmal vor, der Wikipedia würde der Stecker gezogen, und jede Schule müsste ihre eigene Wikipedia schreiben. Oder jede Stadt. Oder jedes Bundesland.
Eine völlig absurde Vorstellung: Warum sollte der Eintrag zu „Tiefseequalle“ in Siegen anders formuliert sein, als in Frankfurt oder Hamburg? Es wäre verschwendete Zeit, Energie und Arbeit.

Blickt man in die deutsche Verwaltung, dann erlebt man genau dies:
Jede Schule schreibt ihren eigenen Lehrplan. Jahr für Jahr gehen da tausende Arbeitsstunden drauf für etwas, das kaum jemand liest. An jeder Schule. In der Schulverwaltung haben alle einzelnen Dezernate ihre eigenen Formulare, ob Grundschule, Hauptschule, Gesamtschule, Gymnasium. Zig verschiedene Formulare und Anträge für etwas, das im Grunde überall gleich ist – und die jeweils von irgendwem erstellt, angepasst und überarbeitet werden müssen. Immer wieder. Zigfach. In jedem Bundesland, jedem Regierungsbezirk. Überall die gleichen Wikipediaartikel.

Im Verwaltungswesen sind wir in Deutschland – in meinen Augen – sehr weit weg davon, die Digitalisierung in ihrer Breite zu nutzen.

Und das hat Auswirkungen.

Denn „die da oben“ erleben Digitalisierung nicht als Werkzeug, das Abläufe effizienter und schneller macht und damit Freiräume für Neues schafft. Stattdessen wird in jedem Büro die Wikipedia neu geschrieben. Klar ist das lästig. Klar verändert das nichts.
Und aus dieser Perspektive guckt man dann auf Schulen und sieht nichts als Aufwand und Kosten.

Und eben diese Menschen, die die Digitalisierung nur als alten Wein in neuen Schläuche betrachten, erstellen dann digitale Schulbücher, die schlicht pdfs sind. Eh, klar sind die scheiße und umständlich und der Lesetext über den Unterschied zwischen Bundesrat und Bundestag ist digital genauso langweilig, wie analog. Da würde ich auch lieber malen, surfen oder durch die Einstellungen scrollen.

Aber Ideen, wie ein gutes digitales Schulbuch aussehen könnte, gibt es durchaus. Und die haben wenig mit den statischen Büchern aus Papier zu tun.

Und an dieser Stelle kommt für mich als Gesamtschullehrer einer städtisch geprägten Schule eine soziale Komponente hinzu: Akademikerkinder können es sich leisten, in der Schule auf Tablets zu verzichten, weil sie den „professionellen“ Umgang in ihrer Freizeit erlernen: Zu Hause gibt es Kapaziäten und Ressourcen und Infrastruktur genug. Etwas, das auf nicht auf alle Kinder zutrifft.
Und wenn ich an hochgradige Leistungsdifferenzierung in meinem Unterricht denke, wenn ich an die Kinder denke, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, wenn ich an die denke, die über wenig Ressourcen verfügen, dann sind digitale Werkzeuge für viele Kinder erst einmal Türöffner.
Das ist für den ein oder anderen Akademiker eine völlig andere Welt – aber manche Kinder lernen den Umgang mit dem Computer entweder in der Schule oder halt gar nicht mehr.
Und wozu das führt, wenn Leute unter Digitalisierung nur verstehen, analoges Zeug in digitales Zeug zu verwandeln, sieht man ja in der absurden Verwaltung dieses Landes.

Es gilt weiterhin: Die Welt ist komplex und wir sehnen uns nach der guten alten Zeit, nach Einfachheit und klaren Antworten:

Es gibt einfach mehr Klicks, mehr Aufmerksamkeit, mehr Geld, wenn alle Zeitungen einen Pädagogikprofessor zitieren, der von einem „Wahn“ spricht und uns ver-spricht: Früher war alles einfacher und besser. Kein Wunder, dass die Kinder so blöd sind heutzutage.

Diese Perspektive ernüchtert: Denn die Vorstellung, wir würden einem „Wahn“ erliegen, wenn wir die Digitalisierung in Deutschland nach vorne bringen, lässt sich kaum kurieren, wenn jene, die Lehrer ausbilden, selbst keine Vorstellung davon haben, was man damit anfangen kann. (Schlimm genug, dreißig Jahre nach der Einführung des Internets!)

Ich schrieb es bereits: In meiner Klasse mit (inzwischen) 29 Kindern gibt es 25 verschiedene Stundenpläne. Jedes Kind verfolgt seinen eigenen Plan, seinen eigenen Bildungspfad. Die Kinder arbeiten mit unterschiedlichen Materialien, in unterschiedlichem Tempo, mit unterschiedlichen Lerngruppen. Die Vorstellung, man müsse nur wieder „zurück zu früher“ und als Zuchtmeister vorne an der Tafel würde ich bessere Ergebnisse erzielen, ist verführerisch (weil einfach umzusetzen), aber schlicht falsch.

Wäre schön, wenn auch der Journalismus seinen Teil dazu beitragen könnte, diesen Narrativen nicht immer wieder Raum zu geben.


Anmerkung: Ich verlinke die Aussagen nicht. In meinen Augen ist das Aufreger-Journalismus/Ablenkungsdebatten/Clickbaiting und ich möchte dem keine zusätzliche Reichweite verschaffen.

2 Gedanken zu „Der „Digitalisierungswahn“ an Schulen lässt sich kaum kurieren.“

  1. Um es mit Thorsten Dirks, CEO von Telefónica Deutschland, zu sagen: „Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.“

    Auch wenn sich Schulpädagogikprofessor vielleicht gewählter ausdrücken, an der Stelle bin ich bei Dirks und deinen Beispielen.

  2. Vielen Dank für diesen durchdachten und guten Artikel! Ich fürchte nur, dass sehr viele Menschen diesem Akademiker Beifall zollen und deinen Artikel nicht mal kennen lernen geschweige denn durchdringen.

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