Ich lebe in einem Dorf, das so klein ist, dass wir nicht einmal eine eigene Ampel brauchen. Durch unseren Garten fließt ein Bach und der einzige Friseur des Ortes kennt alle Einwohner mit Namen.
Entsprechend groß waren meine Augen, als ich Donnerstag nach Berlin zum #excitingEDU-Kongress durfte. Im Rahmen der zweitägigen Veranstaltung durfte ich an der Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule meine Arbeit mit Lerntheken vorstellen und den theoretischen und praktischen Hintergrund desselben in einem Workshop demonstrieren.
Im Gegensatz zu einer Gesamtschule auf dem Dorf, hat eine (etwa gleich große) Gemeinschaftsschule in Berlin eine gänzlich andere Schülerschaft, begleitet von einem durchdachten Konzept.
Ein paar Aspekte, die mir im Gedächtnis geblieben sind:
- Es gab eine Reihe von “Schülertaxis”; man konnte sich jederzeit an einen Schüler mit einem entsprechenden Schild wenden und bekam eine komplette Schulführung. Sehr einladend!
- Dem Konzept der jahrgangsübergreifenden Klassen bin ich zuletzt in der Grundschule begegnet. Frontalunterricht scheint mir in gemischten Klassen kaum möglich. Auch meine “Vorführstunde” war in einer Jahrgangs-gemischten Klasse angesiedelt. In einer weiterführenden Schule mag das besser klappen.
- Jeder Schultag beginnt mit einem Morgenkreis/Klassenrat.
- Klassenfahrten finden jährlich statt und nennen sich “Woche der Herausforderung”. Sie werden von den Schülern komplett selbst organisiert. Begleitperson muss eine Person über 18 sein, nicht zwingend ein Lehrer. Der Begriff “Herausforderung” ist dabei wörtlich zu verstehen. Eine Woche chillen im Schwimmbad geht nicht.
Es scheint mir unpassend, an dieser Stelle meine eigenen Stunden ausführlich zu reflektieren. Die Schüler haben die Lern-Methode positiv angenommen und sehr konzentriert auf ihrem Niveau gearbeitet. Die Lerntheke habe ich an vier Stellen exemplarisch durch Technologien erweitert, die ich so auch im Alltag erlebe. Je ein Schüler…
- … simulierte ein Kind mit mangelnden Sprachkenntnissen. Er hatte die Lerntheke in übersetzter Form auf einem Tablet vorliegen.
- … simulierte ein Kind mit Förderbedarf. Er bekam digital andere Aufgaben zur Verfügung.
- … stellte ein Kind dar, das von zu Hause aus mit einem iPad lernte.
- … spielte ein Kind mit körperlichen Einschränkungen: Er nutzte die Barrierefreiheit-Einstellung des Tablets.
Das Ganze lief recht gut.
Zwischendrin immer wieder: Gespräche mit Kollegen.
Sebastian Schmidt beispielsweise verfolgt das Flipped Classroom-Konzept. Dabei nutzen die Schüler Erklär-Videos auf Youtube für die Theorie und können die Unterrichtszeit mehr zum Üben und Entdecken nutzen. Wir haben uns darüber ausgetauscht, inwiefern man meine Hilfskarten der Lerntheke mit seinen Videos kombinieren könnte (ein Gedanke, der auch einem meiner Referendare schon gekommen ist).
Ein ganz interessantes Gespräch hatte ich mit David Klett, dem Geschäftsführer von Klett-MINT und Initiator des Kongresses über die Zukunft von Schulbüchern und den Interessen der Verlage einerseits und den Bedürfnissen der Lehrer andererseits. Seine Motivation, excitingEDU ins Leben zu rufen, formulierte er sinngemäß mit: Wir haben hier die Möglichkeit, haufenweise kluge und kreative Köpfe zusammenzubringen, die heute schon intelligent Technologien im Unterricht einsetzen. Die wollen wir einladen und schauen dann, was daraus entsteht.
Dieser Ansatz gefällt mir deutlich besser, als – platt formuliert – ein elektronisches Whiteboard zu erfinden und es (z.B. auf der didacta) an Schulen zu verkaufen mit dem Hinweis ‘Überlegt euch, was ihr damit macht.’
Überhaupt: Gequatscht mit Bob Blume und Maik Riecken, André Spang und Torsten Larbig und vielen anderen kreativen Köpfen. Alles Leute, die in der Schullandschaft aktiv sind. Spannendes von Leuten aus dem Microsoft Innovative Educator Program gehört, dem ich seit Kurzem angehöre und wo ich ganz gespannt der Dinge harre, die da kommen.
Am Ende bleibt – ich höre sie schon – die Frage, was denn Zählbares herausgekommen ist.
Zunächst ein SPIEGEL-Artikel über excitingEDU, in dessen Kommentarspalte sich vielerlei besorgte Bürger über unsere Ideen und Ansätze echauffieren. Außerdem ein anderer SPIEGEL-Artikel über die Sehnsucht nach inspirierenden Lehrern: “Warum sind nicht mehr Pädagogen so?” (Übrigens ebenfalls mit einer aufschlussreichen Kommentarspalte.)
Für mich – und ich behaupte, auch für anderen Besucher des Kongresses – bleibt genau jene Inspiration. Sich mit Leuten zu unterhalten, die einen verblüffend anderen, aufregenden Ansatz von Unterricht haben. Eine Schule kennenzulernen, die völlig anders ist, als die eigene und doch an vielen Stellen ähnlich.
Über den Tellerrand schauen.
Jetzt sitze ich wieder in meinem kleinen Dorf. Ohne Ampel. Ein Friseur. Und bin zutiefst beeindruckt und voller neuer Ideen.
Einen kleinen Einblick in den Kongress vermag dieses Video geben:
Ich habe ein solche Herausforderung an einer Reformschule hier in Hamburg vor 2 Jahren begleitet (und auch darüber geblogt). Großartige Sache!
Lieber Jan, bin gespannt, wie du die Inspirationen umsetzt. Da ich nicht dort war, sehe ich die Sache etwas ernüchterter. Ich glaube, man kann mit neuen Technologien natürlich sehr guten Unterricht machen und Schüler vorallem animieren, aber man kann auch grottenschlechten Unterricht machen. Je nachdem, wie man die Technologien nutzt. Die Technologie macht noch keinen guten Unterricht.
Natürlich seid ihr euphorisch, es gibt ja so viele Möglichkeiten! Das will ich dir gar nicht madig machen. Und ja, die Ausstattung an unserer Schule ist sehr hinterwäldlerisch, aber es gibt Kollegen, die neue Medien sehr intensiv einsetzen und das halt alles privat organisieren und da gibt es auch sehr schlechte Konzepte, die nach außen aber so frisiert werden, dass es toll klingt. Da sitzt ein Kollege beispielsweise nächtelang und frisiert den Schülerblog, um ihn den bei einer Fortbildung vorzustellen und alle sind begeistert. Wenn ich jedoch die Schüler frage, lachen sie, denn sie haben weder den Lehrer noch den Blog oder das Thema erst genommen. Das ist die unter den Teppich gekehrte Seite und die lerne ich gerade kennen. Gerne würde ich andere Erfahrungen machen.
Du hast völlig recht.
Ich behaupte einfach mal, dass da in Berlin sehr viel wirklich gut umgesetzter Unterricht zu sehen war. Technologie war stets nur ein Werkzeug und kein Selbstzweck.
Ich habe deine Stunde von 14.00 Uhr bis 15.30 Uhr erlebt. Sowas kann man nicht spielen. Das war großartig – von den Schülern und von dir!
Die Konsequenz, mit der du die Lerntheke einsetzt ist beeindruckend. Ich hoffe noch viele Dinge hier von dir zu lesen!
Großes Kompliment.
Zum Kongress: Nörgler und Besserwisser gibt es immer. Es waren viele kluge und innovative Köpfe da, die etwas bewegen (wollen). Leider hat sich bei aller Begeisterung, bei allen Tatendrang gezeigt: wir können über Inhalte, Werkzeuge und Methoden reden. Der „Wettbewerb“ auf dem Bildungssektor Zwischenahn 16 Bundesländern ist der tatsächliche Hemmschuh jeder flächendeckenden Entwicklung. Daran kann der beste Kongress nichts ändern.
Danke 🙂
Immer wieder toll, deine ansteckende Begeisterung! Ein bisschen erschrocken bin ich allerdings über den Eindruck, es habe sich um eine reine Männerveranstaltung gehandelt.
„rein“ nicht, aber die Männer waren deutlich in der Überzahl.
Ich würde das plump damit erklären, dass die Nutzung von „technischen Spielzeugen“ eher kindischen (oder kindlichen?) Männern zu eigen ist.
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