Als ich vor vielen Jahren in Ludwigsburg unter dem großartigen Christian Spannagel studierte, wies er uns an, einen Twitter- und einen Facebook-Account anzulegen, außerdem einen Blog zu eröffnen, in der Wikipedia mitzuwirken und allerlei Social-Media-Kram mehr zu tun. „Als Lehrerinnen und Lehrer“, erklärte Spannagel sinngemäß, „müssen Sie sich mit dem Web 2.0 auskennen. Sie können es blöd finden – aber Sie müssen es kennen!“
Folgsam eröffneten wir alle unsere Accounts und gingen mit mehr oder weniger Überzeugung an die Sache.
Und heute – zehn Jahre später?
Mittlerweile stehe ich den genannten Medien deutlich kritischer gegenüber, ja, verabscheue sie regelrecht. Ich bin noch unschlüssig, woran das liegt: Am Alter? Am Charakter (von mir oder den jeweiligen Netzwerken)? Ich stelle mehr und mehr fest, dass ihr Nutzen immer geringer wird.
Am furchtbarsten empfinde ich Twitter. Meinen eigenen Account nutze ich eigentlich nur zum Lesen und als Kontaktanlaufstell. In meinem Profil steht dick „Bitte folgt mir nicht – denn sonst fühle ich mich so schlecht, wenn ich hier nichts produziere.“ – aber natürlich hindert das niemanden, mir trotzdem zu folgen. Auf Twitter stolpere ich oft in spannende Dialoge über bildungspolitische Themen. Der edChatde setzt sich jeden Dienstagabend mit schulischen Themen auseinander und erreicht unter der Leitung von André Spang und Torsten Larbig hunderte von Lesern und Teilnehmern. An nichts davon nehme ich aktiv teil, denn das Medium stresst mich. Dabei sind dort unglaublich kluge Leute unterwegs, wie bspw. Dejan Mihajlovic oder Jean-Pol Martin oder die von mir geschätzte Sonja Hennig. Leute, die wirklich was zu sagen haben. Ich erfahre ganz schnell, was ich alles nicht weiß.
Auf Facebook dagegen werde ich ständig mit „diese Fortbildung könnte Sie auch interessieren“ überladen. Überall Lehrerfortbildungen, Konferenzen, Seminare, OERCamp hier, EDUCamp da, excitingEdu dort. Dazu ein Barcamp, virtuelle Kursräume, Webinare und jede Schule und jeder Kollege macht irgendwas mit digitalen Medien.
Ich erlebe ständig, wo ich überall nicht dabei bin, die Katzenvideos zwischendurch empfinde ich als Entspannung. Aber dann sehe ich wieder, wie kleine Roboter und Arduinos programmiert werden, 3D-Drucker intelligent genutzt, Smartphones und Tablets eingesetzt und dies und das und jenes auch noch gemacht wird. Mit meinem Unterricht, der sich oft genug auf Papier und einen spitzen Bleistift reduziert, komme ich mir dann abends ganz popelig vor. Früher hatte ich via Facebook unverbindlichen Kontakt zu alten Freunden – aber mittlerweile versucht der Newsstream mich maschinell zu “optimieren”. Selbst Facebook hat offenbar das Gefühl, ich müsste ein besserer Lehrer werden. Das frustriert.
Auf den Lehrerblogs geht es direkt weiter: Sie sind wunderbar zu lesen und beschäftigen sich mal mehr mal weniger mit Schule – ich lese sie, wie ich die Kommentarspalte einer klassischen Zeitung lesen würde. Ich genieße, wenn Herr Rau über die Vögel vor seinem Fenster schreibt, Frau Henner mich mit in ihre Schule nimmt oder Bob Blume sich mit der seinen auseinandersetzt. Pädagogik in homöopathischen Dosen und zwischendurch leichte Kost.
Andere Blogger offenbaren tiefe Auseinandersetzungen mit bildungspolitischen oder lernpsychologischen Ansätzen. Als Beispiel sei Lisa Rosa genannt, die mit ihrem Artikel „Welche digitale Bildungsrevolution wollen wir“ für viel Diskussion gesorgt, mich jedoch in Länge und Gewicht erschlagen hat. Dutzende weiterer Blogger landen regelmäßig in meiner digitalen Zeitung – und manchen ist gemein, dass ich mich durch die Lektüre defizitär fühle: Ich beteilige mich nicht an Konferenzen oder online-Diskussionen, ich besuche selten Fortbildungen und ich habe auch keine besonders klugen Dinge zu sagen. Ja, ich verstehe oft nicht einmal die Sätze, die da geschrieben stehen. (Es ist natürlich ironisch, dass ich selbst einen Blog führe – ich denke und verarbeite beim Schreiben.)
Wenn ich mitbekomme, was alles im Bildungssektor nebenher läuft, erzeugt das bei mir Unwohlsein: Ich müsste doch, ich sollte doch, etc.
Facebook, Twitter, Blogs – sie erzeugen in mir Stress. Ich fühle mich schlecht und unterdurchschnittlich und mies gelaunt. Wieso können die (ja: die!) so viel und ich irgendwie gar nichts? Ich bin ganz und gar verunsichert wie ich damit umgehen soll. Ein Teil von mir möchte Facebook und Twitter lieber heute als morgen endgültig abschießen (wie der Kollege aus Bielefeld es mit Twitter hält). Augen zumachen erinnert aber doch arg an meine Zweijährige, die mit mir Verstecken spielt: Was sie nicht sieht, gibt es nicht.
Der andere Teil in mir liest und stöbert gerne, lässt sich inspirieren und kommt auf neue Ideen. Aber das fällt mir zunehmend schwerer.
Ich stelle fest, dass der Filtermechanismus in meinem Hirn an dieser Stelle nicht funktioniert.
Im Unterschied zu vielen Schülern kann ich sehr gut googeln: Ich filtere automatisch schlechte von sehr schlechten Suchergebnissen auf den ersten Blick aus, während sie sich noch mühsam durch jedes vorgeschlagene Ergebnis klicken müssen. In den sozialen Netzwerken hingegen bin ich völlig überfordert: Ich erkenne auf Twitter nicht, was wichtig ist und was unwichtig. Ich kann bei Facebook nicht vernünftig filtern, ohne das Gefühl zu haben, spannende Dinge zu verpassen. Too much information.
Vielleicht sollte ich Christian Spannagel um Rat fragen. Wer weiß, womöglich bietet er ja eine Fortbildung an? Ich schau mal auf Twitter…
Ich kenne das auch. Wer weiß, vielleicht liegt’s ja auch am Alter. 😉
hehe – das beruhigt 😉
Facebook (und Instagram) habe ich schon länger komplett beendet. Da hatte ich immer das schlechte Gefühl.
Habe gestern eine Stippvisite auf Twitter gemacht – gleich unter den ersten Tweets drohten sich Lehrer mit der Entfolgung – da habe ich mich gleich wieder abgemeldet.
Ich glaube mich zu erinnern, dass Christian Spannagel auch eine Zeit lang die Reißleine gezogen hat. Auf Twitter las/liest man ja kaum noch von ihm.
Bei Instagram fotografiere ich einfach nur für mich selbst – folge da auch praktisch niemandem. Da funktioniert der Filter. Bei allem anderen… puuuh. Ganz schwer für mich.
Aha, der hatte sich das wohl auch anders vorgestellt. 😀
Bei einem Überangebot bietet es sich immer an, die Qualitätsansprüche so lange hochzuschrauben bis das Feld auf ein erträgliches Maß eingedampft ist (alle Diskussionen werden immer an mehreren Stellen geführt, d.h. verpassen tut man eher wenig):
Jemand hält es nicht für nötig, flüssig zu Lesendes (nicht: einfach zu Lesendes) zu schreiben? Raus.
Jemand leistet sich wiederholt mittlere bis schwere Mängel in der Argumentation? Raus.
Jemand beleidigt mich (Ich hätte Angst vor der Digitalisierung, sei zu faul mich damit auseinanderzusetzen etc…)? Raus.
Damit filtere ich recht zuverlässig die aus, deren Sendungsbewusstsein über den sauberen Diskurs triumphiert.
Ich mag manches verpassen, aber es bleibt genug übrig. Außerdem lohnt sich die Beschäftigung mit einem Thema mMn eh erst, wenn es mal ein paar Monate abgehangen ist. Und dann diffundiert es auch in die Kreise, die ich lese.
Schön zu hören, dass es nicht nur mir so geht. Auch ich lasse mich gerne inspirieren, bekomme aber auch immer ein schlechtes Gewissen und denke ich müsste mehr tun.
Ich finde es nett, dass du meine Häppchen magst. Danke. Mir geht es ab und zu ähnlich. Dann schmeiße ich mich wieder in die medialen Fluten. Ich denke, dass ich noch nicht an dem Punkt bin, an dem du bist. Mal schauen, wohin sie (die Fluten, um im Bild zu bleiben) mich tragen.
Vielleicht komme ich, umgekehrt, irgendwann an den entspannten Punkt, an dem du bist 😉
Also am Alter liegt es beruhigenderweise nicht. Habe meinen Account bei Facebook vor ca. 1 Jahr gelöscht und das als Endzwanziger. Für mich war das genau der Stressfaktor, den du beschreibst. Alle zeigen nur wie toll es ihnen geht und was sie für ein erfolgreiches sorgenfreies Leben führen. Natürlich eine Scheinwelt… Nur von den schlechten Tagen, misslungenen Projekten und echten Problemen liest man bei Facebook und co nichts. Beim Input funktioniert der Filter ziemlich gut.
Ich habe nicht das Gefühl, dass man durch Abstinenz von „sozialen“ Netzwerken etwas verpasst. Mein Unterricht ist trotzdem häufig digital gestützt und aktuell.