Die Stimmung in meiner 10er Mathematikklasse ist sehr entspannt. Wie auch in den letzten Jahren scheinen alle Schülerinnen und Schüler dieses letzte Jahr zu genießen und voll auszukosten (auch, wenn sie das selbst nicht so formulieren würden).
Während sich der Kurs mit der Lerntheke zur “Raumgeometrie Siegens und Umgebung” auseinandersetzt, werden Sprüche geklopft und es wird viel gelacht. Statt einer Klassenarbeit müssen sie ein Projekt absolvieren: Allein oder zu zweit sollen sie sich ein Gebäude aussuchen, sich dazu passend eine komplexe Aufgabe ausdenken und Fotos, Zeichnungen, Aufgabe und Lösung in einem Office-Programm ihrer Wahl bearbeiten und abgeben.
Dieses Projekt habe ich bereits letztes Jahr mit der 10. Klasse gestartet und die Schüler haben damals von Kirchen und Grundschulen über Segelflugzeuge bis hin zu Hasenställen alle möglichen Objekte inspiziert. Hintergedanke dieser Arbeit ist, dass sich die Kinder nicht nur mit der Mathematik auseinandersetzen, sondern auch mit dem Problem, diese Mathematik in den Computer zu bekommen. In mittlerer Zukunft warten Fach- und Seminararbeiten auf viele von ihnen und es ist nicht akzeptabel, wenn Schüler fünfzigmal die Leertaste drücken, weil sie in Word etwas in der Mitte der Seite schreiben wollen. Zeichnen, Formeleditor, Formatierungsgrundlagen. Ich bin da recht strikt und akzeptiere weder das Sternchen * für ein Multiplikationszeichen noch den Doppelpunkt als Ersatz für einen Bruch, Gleichungen müssen sauber untereinander geschrieben werden – ganz wie im Heft auch.
Zwei Jungs sind USA-Fans und baten um die Erlaubnis, das neue World Trade Center ins Zentrum ihrer Arbeit rücken zu dürfen. Um sich Zeichnungen und Analysen zu vereinfachen, bestellten sie kurzerhand ein 3D-Puzzle des Gebäudes und vermaßen es im Unterricht – letztlich wird es um die Frage des ökonomischen Fensterputzens und die Wahl zweier konkurrierender Firmen gehen.
Als Lehrer betrachte ich diesen Einsatz – ja, diese Lust an Mathematik – mit einer Mischung aus Freude und Stolz. Ich halte es für das höchste Ziel, sich als Lehrer überflüssig zu machen – und hier fühlt es sich fast so an. Ich muss niemanden antreiben, keinen Druck mit Abschlüssen oder Klassenarbeiten erzeugen. Der Kurs macht unglaublichen Spaß.
Diesen Weg muss meine neue 9. Klasse noch gehen. Nach ihren zwei Wochen Praktikum ist sie erstmals im Schulalltag wieder angekommen. Rechnet man die auslaufende Zeit vor den Sommerferien bis heute zusammen, haben sich die 30 Schülerinnen und Schüler vor rund zweieinhalb Monaten das letzte Mal ernsthaft mit Mathematik auseinandergesetzt.
Und nun, in ihrer ersten Stunde, haue ich dem frisch zusammengesetzten Kurs meine Anforderungen und Erwartungen um die Ohren. Ich stehe nicht an der Tafel. Lernen kommt nicht vom zusehen, sondern vom Grübeln, Probieren, Denken. Das erwartete Maß an Eigenverantwortung und Anspruch überfordert und ich sehe Entsetzen und Furcht in vielen Gesichtern.
So ist es jedes mal.
Ich habe jetzt zum vierten Mal eine Klasse 9 in Mathematik übernommen und jedes mal sind die Augen groß und nach der ersten Stunde rennen jedes Jahr einige zum Klassenlehrer und betteln darum, in einen anderen Kurs zu dürfen.
Und dann, nach zwei, drei Wochen haben sie sich daran gewöhnt, eigenständig zu arbeiten. Sie benötigen mich nicht mehr als Antreiber und Unterhalter und Erklärbär. Mathematik verliert ihren Schrecken und spätestens in einem Jahr sitzt der ganze Kurs gut gelaunt vor mir und es fehlen nur noch Kaffee und Kuchen, um das Erlebnis perfekt zu machen, während ich mit meiner Wikingermütze die binomischen Formeln vorsinge.
Ich liebe es.
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