Mein Mathematikunterricht entspricht dem, was in der Pädagogik als „offener Unterricht“ bezeichnet wird. Ich stehe also selten vorne an der Tafel und belehre alle Kinder gleichzeitig, stattdessen setze ich klare Ziele und schaffe dann eine Lernumgebung, in der die Schülerinnen und Schüler diese Ziele erreichen können. Dabei gilt: Jedes Kind kann (innerhalb gewisser Grenzen) in seinem eigenen Tempo arbeiten und eigene Lernpfade wählen – dies beschreibt in zwei Sätzen meine Arbeit mit den Lerntheken. Diese Form des Unterrichts setzt bei den Schülern ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit voraus – sie müssen selbst aktiv werden.
Wenn ich neue Klassen bekomme, knirscht es zu Beginn stets bei einigen – die ersten Wochen werden als sehr anstrengend empfunden, einige suchen klare Führung und zuweilen entsprechen die ersten Klassenarbeitsergebnisse auch nicht den eigenen Erwartungen.
Auch ausgehend von einem Tweet des Schweizer Dozenten und Lehrer Philippe Wampfler steht die Frage im Raum: Wie lehrt man zu lernen?
Ich habe in den vergangenen Tagen intensiver darüber nachgedacht, welche Faktoren in meinem Unterricht existieren und welche Schritte ich aktiv unternehme, um die Schülerinnen und Schüler letztlich zu eigenverantwortlichem Lehren zu führen. Letztlich bin ich bei fünf Punkten geblieben, die – würde ich denken – Kennzeichen meines Unterrichts sind.
- Ich traue meinen Schülerinnen und Schülern viel zu und mute ihnen gleichsam viel zu.
„Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe!“ ist ein bekanntes Zitat – leider nicht aus dem Unterricht, sondern aus einem Buch von Astrid Lindgren. In der Schule begegnet mir von Schülerseite eher „Das kann ich sowieso nicht“ oder von Lehrerseite (mein absolutes HASS-Zitat): „Das ist so eine Chaotenklasse, das klappt eh nicht.“
Ich traue meinen Schülern viel zu. Und entsprechend mute ich ihnen auch viel zu. - Ich versuche, alle meine Schüler an die Grenzen ihres Potentials zu bringen.
Ich glaube, dass ein guter Lehrer das Ziel immer ein kleines bisschen höher setzt, als ein Schüler es erreichen kann – auf diese Weise muss der sich strecken und wachsen. Die permanente Niveaudifferenzierung der Aufgaben ermöglicht es leistungsstarken wie auch leistungsschwachen Schülern an ihren jeweiligen Grenzen zu operieren. - Direktes Feedback ermöglicht eine klare Selbsteinschätzung.
Zu praktisch jeder Aufgabe können meine Schüler selbst auf Lösungsbögen nachprüfen, ob sie richtig gerechnet haben. Jede Station der Lerntheke hat die reine Zahllösung auf der Rückseite oder klein unten in der Ecke stehen. Nach kurzer Zeit erscheint das Arbeiten ohne diese direkte Überprüfung meinen Klassen schnell als unsinnig: „Warum sollte ich zehn Brüche addieren, wenn ich gar nicht weiß, ob ich das richtig mache?“ Die unmittelbare Rückmeldung auf den Karten ermöglicht jedem Schüler eine permanente Standortbestimmung: „Ja, du kannst das!“ „Nein, das schaust du dir besser nochmal an.“ Das gleiche Maß an Feedback könnte ich niemals im stark lehrerzentrierten Unterricht geben. - Die Rahmenbedingungen sind klar und transparent und vorhersehbar.
Unterrichtsstörungen entstehen häufig aus Langeweile. Langeweile entsteht, wenn Schüler nichts zu tun haben oder nicht wissen, was sie zu tun haben oder nicht wissen, warum sie etwas zu tun haben. Zu jedem Zeitpunkt meines Unterrichts weiß jeder Schüler genau, was er zu tun hat. Ablauf der Stunden, Leistungserwartung und Inhalt des Themas sind völlig transparent gestaltet. Kein Schüler ist völlig unter- oder überfordert. - Die Beziehungsebene stimmt.
Ein, zuweilen unterschätzter, Faktor gelingenden Unterrichts ist die Beziehungsebene, der abfällige Begriff „Kuschelpädagogik“ macht das deutlich. Erstens: In meinem Unterricht sind Fehler erlaubt, ja erwünscht! Bespreche ich Aufgaben an der Tafel und es werden Fehler gemacht, sind sie immer ein gutes Beispiel, an dem man lernen kann. Zweitens: Ich halte es für zwingend erforderlich, dass die Schüler in einer positiven Atmosphäre miteinander arbeiten können. Anders formuliert: Schüler, die ihre Mitschüler durch Kommentare und blöde Sprüche verunsichern, bekommen ein Problem mit mir. Nur in einer entspannten Atmosphäre kann man gut lernen. Drittens: Nicht nur die Beziehung der Schüler untereinander muss positiv durchsetzt sein – auch ich als Lehrer muss meine Klassen gern haben. Ich kenne ganz fantastische KollegInnen, die gefühlt die Hälfte ihrer Schüler adoptieren würden – und das merkt man im Unterricht auch. Ein Indiz ist, wenn im Unterricht miteinander gelacht wird. Trifft alles zu, kann man – plakativ – von einer „Lust auf Lernen“ sprechen. Die Schüler sitzen nicht mehr nur da, „weil sie müssen“ oder „weil die Klassenarbeit!“, sondern auch aus einer Freude am Unterricht.
Bezogen auf meine 9. Klasse, die der Ausgangspunkt von Wampflers Tweet war, passen die genannten Kriterien und ich behaupte, die meisten Schüler würden dem zustimmen – warum ist die erste Arbeit trotzdem bei einigen nicht wie erhofft ausgefallen?
Die Kompetenz, seine eigene Leistung konkret einschätzen zu können, braucht Erfahrung. Man muss vielleicht einmal oder zweimal oder dreimal auf die Nase fallen, bis man das lernt. Im Studium bin ich durch mehr Prüfungen durchgefallen, als ich bestanden habe – auch ich brauchte viel Zeit und Erfahrung.
Mit meiner 9 habe ich viel Zeit aufgewandt, über die Arbeit zu sprechen, nach Ursachen zu forschen. Die einfachste Variante „Sie, Herr Klinge, sind halt blöd“ stelle ich immer gerne als erstes in den Raum – auch, um sie damit zu entkräften. „Ja, das dürft ihr denken und sagen! Aber es hilft uns nicht!“
Entscheidend ist, denke ich, dagegen der falsche Umgang mit dem 3. Punkt: Direktes Feedback.
Die Schüler müssen lernen, aus der direkten Rückmeldung („ich habe diese Aufgabe falsch gerechnet“) andere Konsequenzen zu ziehen. Ziel ist nicht, alle Stationen einer Lerntheke abzuarbeiten („Wichtig ist, was im Heft steht!“). Ziel ist, alle Stationen einer Lerntheke zu verstehen. Das kann auch bedeuten, eine Teilaufgabe nochmal und nochmal und nochmal zu bearbeiten.
Für die nächste Einheit gilt: Mund abputzen und weitermachen. Besser lernen.
Und in einer positiven Lernatmosphäre klappt das auch. Da habe ich gar keine Zweifel.
Toller Einblick in deine ganz konkrete Arbeit, vielen Dank!
Wenn ich mir noch ein Nachfolge-Post wünschen darf… dann würde mich noch interessieren, wie du persönlich mit dem Druck bzw. der Erwartung umgehst, dass am Ende vom Schuljahr oder spätestens zur Abschlussprüfung alle alles „gelernt“ haben. (Ob sie es dann können, ist ja sowieso eine andere Sache…)
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man gerade damit die Chaoten-Klassen ans Arbeiten kriegt. Manchmal muss dabei eben erst der eine oder andere „auf die Nase fallen“. Dann begreifen aber auch diejenigen, dass jetzt nicht „chillen“ angesagt ist. Zweimal habe ich allerdings bisher die Lösungen nicht auf die Rückseiten gedruckt, da im großen Stil nur abgeschrieben wurde. Da mussten die Schüler die Lösungen eben an einer bestimmten Stelle im Raum einsehen, nachdem sie die Aufgaben gemacht haben.
Deine Ideen, hören sich immer so spannend an und fordern zum Selbstmachen auf. Doch dann wache ich als Deutschlehrer wieder auf und frage mich, wie man zumindest Teile davon sinnvoll einbauen könnte. Eine Lösung anbieten ist schwer, da es eben keine Zahl ist und die Sätze variieren können. Inhalte eines Textes in Stichpunkten vorgeben, dass geht leider auch Nicht, weil den Schülern die Fähigkeit fehlt, diese in ihren Texten zu finden…..jedes Mal den ganzen Text kontrollieren, dafür fehlt dann wieder die Zeit………
Manchmal wäre ich doch gerne Mathelehrer, in meiner Vorstellung ist vieles (vielleicht sogar alles) einfacher
Dem stimme ich zweifellos zu.
Ich bin immer wieder im Gespräch mit Kollegen, die neidisch (oder entnervt?) in meinen Unterricht schauen und überlegen, wie sie Teile davon in ihren eigenen integrieren können. Die „Übungsphase“ in der Mathematik ist einfach sehr, sehr, sehr intensiv angelegt.
Ich lasse mich auch immer gerne von dir inspirieren. Schaffst du im Physikunterricht auch eine ähnlich starke Öffnung des Unterrichts? Stationenlernen ist da ja um einiges aufwendiger und allein durch die Zahl der Versuchsmaterialien begrenzt.
Nein, das gelingt mir in Physik nicht annähernd so gut.
Das Fach Mathematik wird bei uns fünfstündig unterrichtet, Physik nur zweistündig und das auch nur in den Klassen 7 und 10. Ich bemühe mich um Stationenlernen, aber das ist nicht mit Mathe vergleichbar.
Mist, ich hoffte schon auf ein „Klar, das geht eigentlich ganz einfach und zwar so und so und so“…
😉
Behalte ich auf dem Schirm. 🙂