Immer wieder begegnen mir Grundsätze von Erziehung, wie sich Lehrer:Innen auf keinen Fall zu verhalten haben und was absolute Tabus seien. Ich tue mich damit schwer.
Wenn man sich überregional mit anderen Kolleginnen und Kollegen vernetzt, dann ist das in den allermeisten Fällen bereichend. Hin und wieder muss ich mich aber bewusst daran erinnern, wie heterogen die verschiedenen Schulen, Klassen und Kinder sind. Hier erklärt jemand ‚Lehrer haben in ihrer Rolle keine Vornamen!‘ um zu signalisieren, dass das Private aus dem Beruf rauszuhalten wäre. An anderer Stelle wird der Standpunkt vertreten, dass es nicht okay sei, im Unterricht jemanden dran zu nehmen, obwohl man weiß, dass derjenige gerade geschlafen hat. Was täte man damit dem Kind an?
Was ist „Gewalt, auch verbale Gewalt gegen Kinder“?
„Du Fotze hast mir gar nichts zu sagen!“
Mit diesem Satz wurde eine Kollegin während meines Referendariats konfrontiert. An ihrem ersten Tag im Dienst. In ihrer ersten Pausenaufsicht.
„Du Fotze…“
Ich wünsche mir manchmal, dass solchen Grundsätzen „Lehrer dürfen nicht…“ ein „Gut wäre es, wenn…“ voranginge. Oder ein „Der Normalfall sollte sein, dass…“
Zu Beginn einer Vertretungsstunde sitzt ein Schüler lässig auf seinem Stuhl, die Füße übereinandergeschlagen auf dem Tisch. Auch auf die deutliche Aufforderung hin, dies zu zu unterlassen, rührt er sich kein Stück. Seine Körpersprache sagt: „Versuch mich doch zu zwingen!“
Eine Schülerin bekommt jede Woche Dienstags in der Mittagspause vor der Physikstunde PMS. Sie meldet sich mit Bauchschmerzen ab und geht nach Hause. Und weil ihr das irgendwann zu langweilig wird, beginnt sie, ihre Freundinnen zu überreden, mitzukommen. Oder anders: Was tut sie gerade ihren Mitschülern an?
Schule ist so wahnsinnig different, dass wir aufpassen müssen, welche Postulate wir in die Welt setzen.
Ich selbst vereine mehr als zehn verschiedene Lehrertypen in mir: Für die in sich gekehrte und schüchterne Anja bin ich mehr der Ermutiger, für den unorganisierten, chaotischen Torben der freundliche Mahner und für Ulf, der seit Geburt gelernt hat „entweder haust du jemandem auf die Fresse oder dir wird auf die Fresse gehauen“ bin ich erst einmal der „schlimmste Wichser der Schule“.
Ich bin in einer Klasse 5 anders als in einer Klasse 6 anders als in einer Klasse 9. Ich bin direkt nach den Sommerferien viel strenger, als nach den Herbstferien. Ich bin zu Anja anders, als zu Ulf1.
Eine christliche Privatschule wird anders geführt, als eine städtische Hauptschule. In einem gymnasialen Deutsch-Leistungskurs kommuniziere ich anders, als in einem BUS-Projekt zur Wiedereingliederung von aus dem System gefallenen Jugendlichen.
Ein „Lehrer sollten dies oder jenes grundsätzlich nicht tun“ ist manchmal zu kurz gedacht.
Trotz allem gibt es auch für mich Grundsätze:
Jede meiner Reaktionen, jedes Drannehmen und jede Konsequenz muss immer zum Ziel haben, dem Kind zu helfen. Außerdem, ganz wichtig: Die Kinder müssen wissen, dass dies mein Ziel ist. Das kann ich erreichen, indem ich immer wieder frage. „Weißt du, warum ich so schimpfe?“ „Verstehst du, warum wir das hier durchgehen?“ „Hast du eine Idee, warum du jetzt hier sitzt?“
Ich bin streng. Und überaus klar in meiner Sprache. Ich nehme unentwegt Schüler dran, die sich gerade verstecken wollen. Und die gleichen Kinder melden sich fünf Minuten später, wenn sie eine Antwort wissen (woran ich merke, dass sie damit umgehen können). Ich veralbere meine Schüler und sie veralbern mich.
Die letzte Stunde am Freitag ist an meiner Schule eine Klassenlehrerstunde. In ihr werden organisatorische Dinge besprochen und die Woche reflektiert. Außerdem nutze ich diese Stunde gerne für erlebnispädagogische Spiele.
Kern dieser Spiele ist meist: Arbeiten die Schülerinnen und Schüler zusammen, ist die Aufgabe spielend leicht zu lösen. Die Hürden liegen darin, sich zuzuhören, miteinander zu kooperieren und mit Rückschlägen konstruktiv umzugehen.
Gestern spielten wir „Wo ist mein Bär?“.
Der Grundgedanke orientiert sich am Spiel „Wer hat Angst vorm bösen Mann„. Während ich mich kurz umdrehe müssen die Kinder auf mich zustürmen. Blicke ich wieder zu den Kindern, schicke ich jeden zurück an die Grundlinie, der sich bewegt.
Das Ziel des Spiels ist jedoch nicht das Erreichen meiner Position. Statt dessen liegt mein Physikbär Brũno vor mir auf dem Boden. Die Kinder müssen sich ihn schnappen und zurücktragen. Bei jedem Blick zurück darf ich von zwei Kindern meiner Wahl die Hände sehen – finde ich dabei den Bären, geht das Spiel von vorne los. Die Schüler haben gewonnen, wenn sie den Bär zur Startposition zurücktragen können.
Die erste Strategie ist stets, dass einer nach vorne rennt und sich den Bären schnappt. Das scheitert natürlich, weil die schnelle Svenja als einzige vor mir steht, den Bären unauffällig vor dem Bauch versteckt. Nach einem „Svenja… ich will deine Hände sehen!“ fällt der Bär auf den Boden und die Aufgabe ist vorerst gescheitert.
Große Freude bekommt das Spiel, je theatralischer ich mich als Lehrer gebe. Oft deute ich nur an, ich würde mich umdrehen, bewege dabei aber nur den Körper – wie eine Eule. „Machen Sie schon Seniorenübungen?“, kräht Thamaş. Alle lachen – aber hinter den Masken sind ihre Gesichter verborgen.
Schön zu sehen, dass die Klasse Rückschläge gut wegsteckt. Keine Schuldzuweisungen, keine Wut. Statt dessen energisches „Dieses Mal aber!“
Ganz am Schluss großes Gejohle und ausgelassene Freude. Sie haben mich besiegt – wieder einmal. In der knappen Auswertung sprechen wir an, was gut geklappt hat und was die Schlüsselfaktoren für den Erfolg gewesen sind.
„Aber Herr Klinge“, meldet sich Doro zu Wort, „ich habe genau gesehen, dass Sie manchmal den Bären gesehen haben – und trotzdem haben Sie nichts gesagt.“
Gut beobachtet, Doro, wir Lehrer drücken nämlich auch mal ein Auge zu. Das ist einer meiner Grundsätze.
1: Übrigens: Auch unser Gesetzbuch behandelt alle gerecht, aber nicht gleich: Wenn ich nachts alkoholisiert in der Straße Randale mache, bekomme ich eine andere Strafe aufgebrummt, als wenn das ein reicher Prominenter tut. Stichwort: Tagessatz.
Guten Tag Hr. Klinge! Ich bin keine Lehrkraft,, nur“ eine Grossmutter und mich interresiert am meisten – wie arbeiten Sie mit dem Ulf? Sie sagten – der hat seit seine Geburt nur negative Aussagen gelernt…Wäre bloß in eine andere Familie geboren…. Aber ist der schuld – nein…. Also wie kann man so einem Kind helfen auf die richtige Werte zu achten als Lehrer….. in den wenigen Stunden, die Ihnen zu Verfügung stehen?? ❤️Grüsse Dani die Grossmutter
Ich grüße Sie 🙂
Klar ist, ich kann in meinen drei Mathematikstunden nicht 12 Jahre fehlende Erziehung oder traumatische Erlebnisse aufarbeiten.
Als einen Schlüsselfaktor für eine zielführende Arbeit mit „Ulf“ betrachte ich, ein gemeinsames Konzept der Schule. Dann arbeite ich nicht alleine mit dem Kind, sondern es erfährt mehr oder weniger die gleichen Regeln, die gleichen Konsequenzen und die gleichen Ermutigungen bei allen Lehrern. Dadurch steigt der (positive) Einfluss der Schule enorm, denn dieses Gerüst gibt Sicherheit und Vertrauen. Darin eingebunden müssen die Sozialarbeiter sein und viel, viel, viel Geduld. Ich rechne bei solchen Kindern in Jahren und nicht in Wochen.
Genauso geht gute Schule.Danke für den Beitrag .Aber besonderen Dank an den Lehrer,der so einen Untericht leistet.Es ist sicher schwer,diese Differenzierungen Schülern,Eltern und auch Kolleg,innen zu erklären.Aber anders ist ein ein gutes Lernklima nicht zu erreichen.Dann wollen die Schüler,innnen auch lernen.Weil der Mensch ,der vor ihnen steht ihnen Wertschätzung und Verständnis schenkt.Aber auch Grenzen setzt,weil er ihnen zutraut,diese auch einzuhalten.Kein leichter Beruf,weiss ich aus Erfahrung.Aber immer wieder schön,wenn die Kinder begeistert bei der Sache sind.Alles Gute solchen tollen Lehrer.innen.
Ich bemühe mich 🙂
Unsere Grundsätze der Erziehung, die ich in den ersten Jahren rein intuitiv umgesetzt habe, werden immer wieder von unserem nun 8 jährigen Sohn mit ADS ausgehebelt. Er hat so viel Verstand, er ist feinfühlig, tolerant und offen, manchmal total nervig und albern, aber alles in allem ein toller, liebenswerter Junge. Nur kommt er nicht klar. Schule ist ein steter Kampf und Hausaufgaben purer Horror… Wie würden Sie mit einem solchen Kind Unterricht machen?
Hallo,
an meiner Schule gibt es keine Hausaufgaben – damit wird schon einmal etwas familiärer Druck genommen. Im Unterricht nutze ich Differenzierungsräume, in die sich Kinder zurückziehen können und stete, geduldige Ermahnung und Motivation. Viel Liebe. 🙂
Danke… danke an Alle Lehrerinen und Lehre…. Euch viel Erfolg vor allem bei Allen den Schüler die Sie am meisten brauchen aber das noch nicht selbst erkannt haben…. ♀️
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