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Schule als chinesischer Garten.

Axel Krommer, Dozent der „Didaktik der deutschen Sprache“, beschreibt in einem spannenden Artikel das Klassenzimmer als „chinesisches Zimmer“. Zusammengefasst beschreibt er folgendes Gedankenexperiment:

In einem geschlossenen Zimmer sitzt ein Mann, der beliebige chinesische Zeichen X nach einem Handbuch in ein passende chinesische Zeichen y umwandelt, ohne auch nur ein einziges Zeichen zu verstehen.
Wenn durch einen Briefschlitz auf der einen Seite ein Zettel mit kryptischen Zeichen eingeworfen wird, dann „übersetzt“ er getreu dem Handbuch und verfasst einen neuen Zettel mit passenden Zeichen, den er auf der anderen Seite des Zimmers auswirft. Was der Mann nicht weiß: Links werden Fragen eingeworfen und er schreibt – weil es ein gutes Handbuch ist – die passenden Antworten auf.

Von außen sieht das aus, als könnte der Mann im Inneren chinesisch. In Wirklichkeit wird seine Kompetenz nur simuliert.

In Schule, so Krommer, geht es zu oft nur darum, stumpf irgendwelchen Anweisungen zu befolgen und ein Verständnis zu simulieren. Um echte Kompetenzen, um wirkliche Freiheiten und echtes Denken geht es kaum.

Ich kann Gedankengang und Argumentation an vielen Dingen nachvollziehen und habe doch das Gefühl, dass die beschriebene Perspektive zu einseitig ist.

Dazu ein alternatives Gedankenexperiment.

Der „chinesischen Garten“

chinesischer GartenWährend der Mann oben ins chinesische Zimmer gesperrt wurde, darf seine Frau allerlei Freiheiten genießen. Sie wird vom Kaiser in seinen chinesischen Garten geführt und hat dort nur eine einzige Aufgabe: Sie möge ein tolles, zum Garten passendes Möbelstück entwerfen. Dabei darf sie sich ganz frei fühlen, sie unterliegt keinerlei Zwängen – obwohl natürlich jeder einen handwerklich sauber gefertigten Stuhl von einem schiefen Nagelbrett-Unfall unterscheiden kann.

So steht die Frau also im Garten. Linkerhand eine Werkstatt mit allerlei wunderlichen Werkzeugen. Oberfräse steht auf einer. Zugspindeldrehfräse auf einer anderen. Rechterhand ein Schuppen mit Materialien in Hülle und Fülle: „Polyamid“ steht auf einer Schublade und „Polyurethan“ auf einer anderen. Ein Regal ist mit Hölzern gefüllt, auf denen Begriffe wie „Baumhasel“ oder „Elsbere“ steht.

Die Frau ist überfordert, aber nicht dumm. Sie entscheidet sich, etwas aus Holz zu gestalten (denn das passt zum Garten) und nimmt sich zunächst das Handbuch über Holzarten vor und beginnt zu studieren. Leider gibt es rund 25.000 verschiedene Holzarten und in dem reichen, chinesischen Garten ist alles vorhanden.

Schnell verfliegt die Zeit. Und dabei hat die Frau noch kein einziges Werkzeug kennengelernt. Dabei gibt es so viele Sägen… und was ist der Unterschied zwischen einem Schrupphobel, Schlichthobel und einem Putzhobel? Von den 26 anderen ganz zu schweigen?

Die Frau ist sich immer noch nicht sicher, was sie denn eigentlich bauen soll, denn auch der Berg an Fügeverbindungen bereitet ihr jetzt schon Bauchschmerzen. Ist der „Blattstoß mit Schwalbenschwanzverbindung“ den Mehraufwand gegenüber dem „Zapfenblatt“ wert? Sie könnte auch einfach etwas mit Nägeln zusammenkloppen – aber wäre das nicht eine große Enttäuschung bei all den Möglichkeiten? Wie soll sie in der kurzen Zeit eine Beurteilungskompetenz erlangen?

Nach vielen Tagen ist der Garten immer noch unverändert. Es ist kein Meisterstück zu finden und der chinesische Kaiser ist enttäuscht. „Frau“, sagt er, „hattest du nicht alle Freiheiten? Konntest du nicht aus den besten Werkzeugen und teuersten Materialien wählen? Habe ich dir nicht alle Handbücher zur Verfügung gestellt? Und doch ist hier nichts von Wert!“

Vom Zimmer in den Garten

Die Wahrheit wird zwischen diesen beiden Ideen liegen.

In vielen Aspekten stimme ich Krommer zu und teile seine Befürchtung, Schule könne auf das falsche Ziel reduziert werden, den besten Weg zum Schulabschluss zu finden. „Life-Hacks“ sozusagen. Aber Schule ist kein chinesisches Zimmer, in dem stumpf und ohne Sinn Dinge auswendig gelernt werden. Es mag sein, dass Schüler:innen das zuweilen so wahrnehmen – aber ich behaupte doch, dass in den meisten Fällen die Lehrkraft ein „..das tun wir, um folgendes…“ ergänzt hat. Aber wieviel bleibt davon hängen? Wie viele Schüler:innen wissen noch, warum man Brüche dividiert, indem man mit dem Kehrwert multipliziert, obwohl es im Unterricht ausführlich erarbeitet und anhand zahlreicher Limoflaschen und Gläser demonstriert wurde?

Und Schule, auch nicht die progressivste, ist ein chinesischer Garten, indem du alles tun kannst und viel googeln darfst, aber ohne Vorwissen hineingestoßen wirst.

Die Hälfte meiner Fünftklässler möchte „App-Entwickler“ werden und sie träumen davon, in der Informatik-AG ein eigenes Spiel zu programmieren und damit reich zu werden. Kein Einziger schafft es. Und kein Einziger wird es jemals schaffen – weil ihnen jedes Grundwissen fehlt: Grundwissen der Programmierung, Grundwissen über App-Design, Grundwissen über Finanzierung.

Manchmal mag Unterricht wie ein chinesisches Zimmer erscheinen – aber wenn der Mann nach langer Zeit ein Auge für die chinesischen Schriftzeichen entwickelt hat und nur noch selten in die Handbücher gucken muss, dann wird er in den Garten treten und erkennen: „Uh! Da steht 云杉 drauf? Dazu gehören die Schubladen mit der Aufschrift 锤子 und 螺栓.“

Und tatsächlich! Da ist das passende Werkzeug.

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