Seit zwei Wochen schon will ich mich an Bob Blumes Einladung dranhängen, sich kritisch mit dem Unterrichtsstoff auseinanderzusetzen. Was gehört eigentlich in die Schule und warum? Das sind wichtige Fragen – erst recht, wenn man Physiklehrer ist.
Konkrete Fragen:
- Erinnern Sie sich an die „drei-Finger-Regel“ aus dem Physikunterricht?
Damit lässt sich die Richtung der Lorentz-Kraft in einem stromdurchflossenen Leiter bestimmen. Wann haben Sie dieses Wissen zuletzt gebraucht? Wann haben Sie dieses Wissen zuletzt vermisst? - Die Zwölftonreihe wird im Musikunterricht gern behandelt (ich erinnere mich dunkel) und ist eine beliebige Anordnung der zwölf verschiedenen Tonhöhen der chromatischen Tonleiter in einem gleichschwebend temperierten Tonsystem.
Wann haben Sie dieses Wissen zuletzt gebraucht? Wann zuletzt vermisst? - Ist die Geschichte der Weimarer Republik eher durch das Leiden der Kriegsfolgen gescheitert, die verschiedenen Putschversuche oder die Hyperinflation? Und wann haben Sie zuletzt darüber nachgedacht?
- Wodurch unterscheidet sich in der Kunst eigentlich der Impressionismus vom Expressionismus? Und warum löste das eine das andere ab?
- Sind die Begriffe Konvergenz, Divergenz und Subduktion im Fach Erdkunde für das Verständnis der Plattentektonik eigentlich unabdingbar? Sind sie natürlich – aber wann haben Sie das zuletzt wissen müssen?
Kurz: Schule ist voll unnützen Wissens.
Ginge irgendjemandem etwas verloren, wenn er keine Minnelyrik in der Schule gehabt hätte? Sich weder mit Mitochondrien noch dem zweiten Strahlensatz beschäftigt hätte? Wenn man schlicht nichts von Schiller gelesen hätte (Geständnis: Ich habe nichts von Schiller gelesen)?
Ganz ehrlich: Ich könnte zehn Schuljahre auch gut füllen, wenn man drei Viertel der Inhalte streichen würde. Denn für echtes Verständnis braucht es Zeit. Viel, viel Zeit.
Ein paar Beispiele: Die Erde dreht sich um die Sonne, oder? Haben Sie gelesen. Oder gesehen. Aber können Sie es auch beweisen? Wie? Wie ohne Satelliten und Raketen und Internet?
Das ist als Fakt in zwanzig Sekunden hingeschrieben und auswendig gelernt. Aber mit dem Problem kann man sich auch Wochen beschäftigen. Experimentieren, grübeln, probieren, forschen.
In Nordrhein-Westfalen sind die Lernpläne stark kompetenzorientiert aufgebaut: Die Schülerinnen und Schüler sollen Kenntnisse und Fähigkeiten erlernen – oft aufgeführt an einem Inhaltsfeld, das bewusst weiträumig formuliert wird und den Lehrkräften Freiräume gibt. Ich mag das sehr – und wünschte mir noch mehr Freiheiten.
In Zeiten, da Lehrkräfte immer mehr Aufgaben übernehmen müssen, die früher™ von traditionellen Familien und der Gesellschaft übernommen wurden, brauche ich nicht immer mehr Fächer und immer mehr Inhalte – sondern mehr Freiheit. Einer Realschule im dörflichen Sauerland sollte zugestanden werden, die Kinder mit anderen Inhalten zu fordern/fördern, als einer Schule im städtischen Brennpunkt. Hier mehr Erziehung. Dort mehr Berufsorientierung. Dort mehr Fördern. Hier mehr Fordern. Hier mehr Kunst, dort mehr Musik.
„Welcher „Stoff“ müsste weg?“, fragt Bob Blume.
„Nichts muss, aber alles kann“, entgegne ich.
#stoffwechseljetzt
Erinnere ich mich an meine Schulzeit, so habe ich in jedem Jahr eine neue Ballade auswendig lernen „dürfen“. Diese kann ich in Teilen auch bis heute noch auswendig. Es nützt mir aber nichts. Und dennoch kommt es hin und wieder vor, dass im Alltag Sätze durch die Luft fliegen wie „Erreicht den Hof mit Müh und Not…“ oder „Was willst du mit der Schere, sprich, “ 😉 oder auch halbe Balladen umgedichtet werden auf aktuelle Situationen oder Themen. Und es ist schön, wenn man dann Erkennen in den Augen des Gegenübers sieht, weil dieser natürlich auch die Balladen kennt vom ewigen auswendig lernen.
Und nun haben wir beim großen Kind festgestellt: das wird heutzutage gar nicht mehr gemacht. Sie haben sich dafür über Monate hinweg intensiv mit sehr vielen Balladen beschäftigt, kennen Merkmale etc… aber gelernt haben sie nur eine einzige.
Und manchmal bin ich neidisch, dass die Kinder heut nicht mehr so viel auswendig lernen müssen und traurig gleichzeitig, weil ich denke es entgeht der kommenden Generation was, wenn die Balladen aus dem Alltag verschwinden.
Diese Ansammlung an Einzelfakten überzeugt mich ehrlich gesagt nicht. Wahrscheinlich findet man zu so ziemlich jedem Thema in der Schule Menschen, die genau dieses Thema später nicht brauchen. Aber darum geht es ja nicht. Es geht in der Schule auch darum, die Jugendlichen mit verschiedenen Themen in Kontakt zu bringen, um ihnen eine gewisse Auswahl zu bieten. Ja, mit einigen davon werden sie sich später tatsächlich nicht mehr beschäftigen – aber andere werden sie vielleicht so sehr interessieren, dass sie sich später deutlich vertieft damit auseinandersetzen werden: Die einen mit der Plattentektonik, die anderen mit der Zwölftonmusik und wieder andere eben mit der Elektrotechnik.
Speziell die Drei-Finger-Regel ist ja letztlich nur ein kleiner Mosaikstein innerhalb zweier großer Themenkomplexe in der Physik, die sich einerseits mit den Grundlagen der Energieversorgung (Elektromagnetische Induktion) und der modernen Kommunikation (Elektromagnetische Schwingungen und Wellen) beschäftigen. Beide Themenbereiche halte ich heutzutage für sehr relevant, und es ist daher aus meiner Sicht sinnvoll, wenn sich Schüler damit beschäftigen.
Davon abgesehen taucht die Drei-Finger-Regel zumindest im Baden-Württembergischen Gymnasium – in anderen Bundesländern und Schularten mag das wieder anders sein – nur noch in der Kursstufe auf, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Schüler bereits die Möglichkeit hatten, das Fach Physik abzuwählen. Denjenigen, die das nicht getan haben, muss man zumindest ein gewisses Interesse am Fach unterstellen dürfen, und das bedeutet, dass man ihnen auch gewisse Inhalte zumuten darf, die über die Grundlagen der Allgemeinbildung hinausgehen.
Innerlich zucke ich außerdem immer ein bisschen zusammen, wenn wieder einmal eine Entrümplung der Bildungspläne gefordert wird. Merkt denn eigentlich niemand, dass das bereits seit Jahren geschieht? Wenn ich die Inhalte, die zu meiner Schülerzeit noch Schulstoff waren, mit den heutigen Inhalten vergleiche, dann fallen mir locker ein Dutzend Themen im Mathe- oder Physikunterricht ein, die heutzutage nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt in der Schule behandelt werden.
Ein Wort noch zu den Freiheiten: Freiheiten im Bildungsplan begrüßt man natürlich immer, wenn man sich selbst welche nehmen darf. Aber wenn sich der Lehrer, der die Klasse zuvor unterrichtet hat, zu viele davon genommen hat, ist das meist weniger schön.
Manche Themen im Bildungsplan bauen einfach aufeinander auf. Sich mit Integralrechnung auseinanderzusetzen, wenn man nicht zuvor schon Differentialrechnung durchgenommen hat, ist eher schwierig. Grundlagen über Funktionen und Variablen, über das Lösen von Gleichungen, das Umformen von Termen sowie Bruchrechnung sollten ebenfalls vorhanden sein.
Deswegen ist es aus meiner Sicht wichtig, dass ein Bildungsplan auch ein gewisses inhaltliches Gerüst vorgibt, um zu vermeiden, dass jeder einfach nur das unterrichtet, was er will – und um dafür zu sorgen, dass man auch verlässlich auf früher gelerntem Stoff aufbauen kann.
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