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Hafermilchgesellschaft im Lehrerzimmer

Hafermilchgesellschaft im Lehrerzimmer 1

Im März dieses Jahres unterhielten sich Markus Lanz (Wikipedia) und Richard-David Precht (Wikipedia) auf der Bühne des „Zukunft Handwerk“-Events vor launigem Publik in München über, nunja, die Zukunft des Handwerks.

Dabei sagte Lanz folgendes:

„Wir sind so eine gefühlige Gesellschaft geworden. So ne, so ne Hafermilchgesellschaft. So ne Agavendicksafttruppe. Die die ganze Zeit auf der Suche nach der idealen Work-Life-Balance ist.“

Und Precht ergänzt:

„…in der Generation meiner Eltern, erst recht meiner Großeltern haben sich die Menschen, wenn sie gearbeitet haben, die Sinnfrage gar nicht gestellt.“
[Quelle Filmausschnitt]

Eine Hafermilchgesellschaft?

Ich bin kein Freund davon, jeder flapsigen Bemerkung zu viel Bedeutung zuzumessen – und dennoch zeichnet sich hier ein interessantes Arbeitsbild von zwei Männern ab, die viel Geld mit ‚Reden‚ verdienen.
Lanz und Precht zufolge sind ‚die jungen Leute‘ zu weichgespült und nur auf Work-Life-Balance aus. Sinnsuche ist doch eigentlich überflüssig (und das, hrhr, von einem Philosophen?!).

Die Gesellschaft wandelt sich.

Beide vermitteln das Bild, man solle sich weniger anstellen, mehr die Ärmel hochkrempeln und einfach mal seinen Job tun. Auf einer Handwerksmesse erscheint mir das eine adressatengerechte Sprache – und gleichzeitig empfinde ich bei diesen Gedanken pure Abscheu: Denn sie vermittelt eine Zwei-Klassengesellschaft. Die Leute sollen doch bitte die Sinnsuche und das Streben nach Work-Life-Balance denen ‚da oben‘ überlassen und mal gefälligst ihren Job tun. Der Machaniker, die Klimatechnikerin, der Trockenbauer, die Elektrikerin. Mehr Maloche, weniger Freizeit.

Spannend ist, dass diese Auffassung der Welt nicht der aktuellen Entwicklung entspricht.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es noch eine 60-Stunden Woche (Ja, donnerwetter, Prechts Großeltern haben sich da die Sinnsuche gar nicht gestellt…) und die Vision einer Zukunft, in der Roboter und Fließbänder den Menschen haufenweise Freizeit bescheren würden. Mitte des Jahrhunderts wurde daraus eine 40Stunden Woche und mittlerweile mehren sich die Forderungen nach einer 32-Stunden-Woche.

Aus der Industrie vernehme ich über dritte häufiger Stimmen, dass es zunehmend Probleme gibt, Führungsetagen zu besetzen. Viele Leute haben schlichtweg keine Lust mehr auf volle Wochenenden, Überstunden und einen Herzinfarkt mit Mitte 50.

Eine echte Hafermilchgesellschaft. Fordern die doch einfach ein, dass ihr Job sinnstiftend ist und sie Zeit mit der Familie verbringen können.

Hafermilchgesellschaft im Lehrerzimmer

Wie das Handwerk leidet auch unser Bildungssystem unter Nachwuchsmangel. Eine 32-Stunden-Woche können wir nicht bieten, vorbereitete Arbeitsplätze auch nicht und mit zunehmender Inklusion, Integration, Differenzierung und der Torpedierung (?) durch Künstliche Intellgenzen entscheiden sich aktuell immer weniger Menschen dazu, Lehrer*in zu werden.

Lanz Bezeichnung einer „Hafermilchgesellschaft“ empfinde ich persönlich als Beleidigung: Menschen, die sich intensiv Gedanken über Ökologie und Ökonomie machen, die nicht einfach stumpf zur Arbeit gehen sondern ihre Lebenszeit bewusst und aktiv gestalten wollen, werden hier abgewatscht.

Aus Schulleitungsperspektive ist das eine spannende Herausforderung: Wie können wir mit einem Kollegium eine Schule so gestalten, dass die Mitarbeitenden ihren Beruf als sinnstiftend erleben. Das jede und jeder gerne zur Arbeit geht, sich wohl fühlt und nicht einfach nur sein Ding abspult. Wo lassen sich Abläufe optimieren, an welchen Stellen sind Aufwand und Nutzen in keinem guten Verhältnis? Wie begegnen wir dem immer schneller anmutenden Wandel der Gesellschaft?

Als Schulleitung sitzen wir oft zusammen und diskutieren genau diese Fragen.

Lanz abfällige Bemerkung über eine Hafermilchgesellschaft und Agavendicksafttruppe haben mir vor allem klar gemacht, dass ich mit ihm überhaupt nicht übereinstimme. Ein Lehrerzimmer voller stumpfer Arbeitsdrohnen, die bis zur Erschöpfung arbeiten und die Kinder darauf vorbereiten, ebenfalls zu malochen bis sie eines Tages umfallen? Puh. Ich möchte so nicht leben.

Diese Zeiten sind längst vorbei. Darauf ein frisches Glas Hafermilch.

4 Gedanken zu „Hafermilchgesellschaft im Lehrerzimmer“

  1. Sehr schön zusammengefasst, ich habe mich gefreut! Welch Wunder, die Jugend (derer es in Zukunft bei uns zuwenig geben wird) sieht keinen Sinn in klassischen Rollenbildern, möchte sich nicht trotz Ausbildung mit Mindestlohn abspeisen lassen und bis ultimo nie abfeierbare Überstunden schieben.
    Was mir aber immer begegnet, sind ältere Menschen die am Ende ihres Lebens bereuen, ihre Kinder und Familien kaum gesehen zu haben und daher keine gute Beziehung.

  2. Früher habe ich das anders gesehen, aber inzwischen halte ich jede Art von uneigentlicher Rede – Ironie, Metaphorik – für ganz schlecht im Diskurs. Das poetisch schöne an Metaphern sind die mitschwingenden Oberton-Bedeutungen, die man wahrnehmen kann oder nicht, die bei politischer und gesellschaftlicher Rede aber zur dog whistle werden und bei denen man sich immer darauf zurückziehen kann, dass man *diesen* Aspekt ja gar nicht so gemeint habe, sondern einen anderen. Hafermilch, Heuschrecken, Fliegenschiss, Hängematte.

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