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PISA, Leseverständnis, Kindergarten und die Frage: Werde ich dümmer?

Früher™, in der guten alten Zeit, konnte ich noch ganze Filme gucken und lange Romane lesen. Mittlerweile bin ich älter geworden, abends oft müde aber auch schnell gelangweilt. Ein Film mit drei Stunden Länge? Puuh.
Ich komme außerdem kaum noch zum erholsamen Lesen – mir fehlt schlicht die Muße. Gerne lese ich mir den Wikipediaartikel durch – dann habe ich alle Informationen (besonders gerne auch die Zusammenfassung von Filmen). Ich mag blinkist (obwohl das Geschäftsprinzip nicht in Ordnung ist), weil es die Kernelemente eines Buches zusammenfasst, ohne viel babla.
Und ich habe mich dabei ertappt, wie ich überlege, von langen YouTube Tutorials die mp3-Spur zu extrahieren, mittels KI zu verschriftlichen und zusammenzufassen – weil das schneller geht, als mir das ganze halbstündige Ding anzusehen.

Kurz: Ich will immer öfter nur noch den Kern der Sache, nicht mehr das Drumherum.

Ist das jetzt gut, weil es Dinge fokussiert darstellt? Oder schlecht, weil es mir den Weg abnimmt, den gute Gedanken (nicht nur manchmal) gehen müssen?

Macht mich das Internet dümmer? Oder kürzer: Machen mich digitale Medien dümmer? Ungeduldiger?

Das ZDF zitiert aktuell Ordinarius Klaus Zierer (ein Titel, auf den ich unverholen neidisch bin) und schreibt: „Eine Erhebung des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung zeigt, dass der Wortschatz von Kindern in der vierten Klasse umso größer ist, je häufiger sie analoge Bücher lesen.“ (Hier ein ausführlicherer Bericht der Studie)

Die Aussage irritiert mich. Wie immer scheint mir die Wahrheit grau und passt nicht in einen Tweet:

  • Welche Familien haben denn passende Kinderbücher zu Hause?
  • Welche Kinder haben Eltern, die analoge Bücher kaufen und ihre Kinder zum Lesen ermuntern?
  • Kann es sein, dass – im Mittel – diese Eltern mehr Zeit und Ressourcen für ihre Kinder aufwenden? Also nicht die Anzahl der Bücher entscheidend ist, sondern die Förderung der Eltern?
  • Ist der Wortschatz dieser Kinder größer, weil sie analoge Bücher lesen oder weil sie in einem Setting leben, indem „Lesen“ oder gar etwas wie „Bildung“ überhaupt erstmal ein Wert beigemessen wird?

Besonders schlucke ich bei dieser Erkenntnis: „[…] Viertklässler, deren Eltern höchstens einen mittleren Schulabschluss und keine Berufsausbildung haben. In diesen beiden Fällen war trotz häufigen Bücherlesens kein deutlich größerer Wortschatz im Vergleich zu wenig lesenden Kindern festzustellen.“

Das ist doch ein entscheidender Hinweis auf eine wesentliche Ressource: Die Fähigkeit der Eltern, ihre Kinder zu fördern/fordern. Denn vergleichbar sind – wenn es um den Faktor „digitales“ geht – nicht jene Kinder, die ansonsten TikTok gucken und Textschnipsel auf dem iPad lesen, sondern solche, die auf einem Kindle Bücher lesen (und welches Kind tut das?)

Und tatsächlich: In dem Ergebnis-PDF steht sinngemäß:

  • Kinder mit Migrationshintergrund kennen weniger Worte
  • Kinder mit Gymnasialempfehlung kennen mehr Worte
  • Kinder mit guten Noten kennen mehr Worte

Von digitalem oder analogem Lesen steht da nichts.

Ein Kollege erzählte mir neulich folgendes: “ ‚Ein Schimpanse klingelt an eurer Tür und läuft in die Wohnung. Schreibe eine Geschichte dazu‘. Bei dir und bei mir geht sofort ein Kinofilm los, was da alles für ein Chaos entsteht. Aber viele Kinder sind davon überfordert, weil sie gar nicht die Sprache haben, sich auszudrücken. Und wenn ihnen die Sprache fehlt, wie sollen sie da Texte schreiben?“

Lesen ist vollkommen unnatürlich

Wenn man darüber nachdenkt, dann ist der Vorgang des Lesens vollkommen unnatürlich: eine antrainierte Fähigkeit, die unser Gehirn buchstäblich verändert und sicher eine der größten Erfindungen der Menschheitsgeschichte.

Evolutionär betrachtet gibt es „Lesen“ erst seit einem Wimpernschlag und begann mit dem Zählen von Weinfässern und Schafen. Mit der Schrift kam dann auch eine Möglichkeit, Wissen weiterzugeben. Und abseits von Informationen kann Lesen unser Gehirn in einen meditativen Zustand versetzen, der Angstzustände reduziert und kognitive Flexibilität fördert.

Kurz: Lesen ist mega.
(Kurze Randbemerkung: Vor 200 Jahren wurde dem Lesen nicht nur körperlich schädigende Eigenschaften attestiert, sondern auch eine verderbliche Wirkung auf die Rezipienten – insbesondere Kinder und Frauen, die als empfindsam und leicht beeinflussbar galten.)

Digital vs. Analog: Lesen im Spannungsfeld der Medien

Wie steht es nun um digitales bzw. analoges Lesen?
„Ich brauche ein haptisches Buch“.
Ja, ich verstehe das und glaube, das stimmt an vielen Stellen auch: Einen Roman halte ich lieber in den Händen, als einen Kindle. Ich merke ja an mir, dass mich das Smartphone eher zum „schnellen Informationen sammeln“ verleitet. Ein haptisches Buch ist etwas, das mich emotional bindet, was mich nicht ablenkt. Und ohne Zweifel tut ablenkungsfreies, ruhiges lesen Kindern grundsätzlich gut.

Aber eine Matheaufgabe? Ein Lexikon-Eintrag? Vermisst irgendjemand das Brockhaus-Lexikon? Hat irgendwer das Gefühl, weniger zu wissen, weil die Wikipedia den Brockhaus ersetzt hat?

Unzweifelhaft haben sehr viele Kinder sehr große Probleme mit dem, was man vielleicht „Grundkompetenzen“ nennen könnte: Angefangen beim Schuhe und Haare binden, hin zum verstehenden Lesen und Schreiben oder dem kleinen Einmaleins. Und ich habe auch wenig Zweifel, dass die Schnellebigkeit der digitalen Welt daran eine große Mitschuld trägt: Oft genug setze ich meine eigene Tochter vor die elektrische Großmutter, wenn der Alltag ruft und dies oder jenes erledigt werden muss.

Schulische Wirklichkeit: iPads und Handys scheitern als Symptombekämpfer

Die Sache wird nun aber nicht besser, wenn wir Smartphones und iPads aus den Schulen verbannen: Die Kinder können dann nicht plötzlich besser lesen. Sie werden auch nicht plötzlich stressresilienter oder klüger oder können das Einmaleins.
Das zu erkennen ist wirklich nicht schwer: Denn sonst wären die Schüler:innen digital abgehängter OHP-Schulen (und davon gibt es jede Menge!) ja sensationell gut. Oder zumindest signifikant besser als die iPad-Zombies.

Aber Pustekuchen: iPads & Handys aus der Schule verbannen macht kein Kind besser, denn es geht nicht die Ursache der Probleme an: Verstehendes Lesen lerne ich nicht anhand des digitalen oder analogen Physikbuches. Lesen lerne ich nicht anhand des digitalen oder analogen Englischbuches. Zur Bekämpfung des Symptoms „fehlende Sprache“ eignet sich ein iPad im Unterricht aber auch nicht.

„…der Wortschatz von Kindern in der vierten Klasse umso größer ist, je häufiger sie analoge Bücher lesen.“
Wir können Eltern nicht verpflichten, sich Zeit für ihre Kinder zu nehmen und ihnen die Liebe zum Lesen beizubringen, wenn sie selbst von Streß, Corona, Krieg, Sorgen, Scheidung, Unterhalt, Miete, Steuern, Inflation geplagt sind.

In der weiterführenden Schule beobachten Lehrkräfte, dass viele Kinder nicht mehr über die einfachsten Kenntnisse verfügen. So mancher Fünftklässler kann keinen Satz fehlerfrei vorlesen. Also müssen wir zurückgehen – aber auch in der Grundschule bemerken viele Kolleg:innen, dass zunehmend Kinder nicht schulfähig sind: Sie können die Sprache nicht, sind motorisch entwicklungsverzögert und können sich nicht an einfachste Regeln des Miteinanders halten.
Also gehen wir noch weiter zurück: In den Kindergarten. Hier muss man ansetzen – das ist sogar günstiger, als erst in den weiterführenden Schulen mit den Symptomen zu kämpfen. Es braucht viel, viel, viel mehr Frühförderung und insbesondere Sprachförderung. Mehr Erzieher:innen die gezielt fördern und fordern. (Hier ein lesenswerter Bericht, der euch 10 Minuten in eine Kita mitnimmt und plastisch veranschaulicht, warum Kitas nicht nur Aufbewahrungsorte sind) Die Sache muss von unten angepackt werden – und nicht oben verzweifelt gegen die Symptome kämpfen, die unentwegt nachwachsen.

Ein Gedanke zu „PISA, Leseverständnis, Kindergarten und die Frage: Werde ich dümmer?“

  1. > Vermisst irgendjemand das Brockhaus-Lexikon?

    Definitv ich, ja.

    …ja, das mag sentimental sein und einfach nur ein Gefühl und nein, da gibt es (fast) nichts, was man nicht auch digital (besser) machen könnte. Aber wie du schreibst: Manchmal mag man’s einfach in der Hand halten. Und blättern, so richtig. Und riechen. Und vor- und zurück schlagen incl. der „Verortung“, wo denn nun was stand. Ich bin definitiv ein analog-Lerner. Keine Ahnung, ob das nur antrainiert ist oder ob ich (nochmal jung) auch digital lernen würde. Sitze schließlich auch lange genug vor der Kiste und habe damit auch viel gelernt. Aber dieses Gefühl „ich weiß die Antwort, sie steht auf der Seite mit dem Knick rechts unten“, das Gefühl ist nicht kindle-kompatibel 😉 Ich kann das nicht besser in Worte fassen, aber ich schätze, du weißt was ich meine.
    Nein, ich vermag nicht zu beurteilen, ob und wie viel das hilft beim beGREIFEN, beim Lernen und erFASSEN der Texte, aber zur Frage zurück: Ja, manchmal vermisse ich das Papier-Lexikon!

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