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Sprachlosigkeit in der Schule

Fast alle Kinder meiner Klasse sprechen fließend deutsch. Es ist ihre Muttersprache. Und trotzdem sind sie oft sprachlos. Sie scheitern an Textaufgaben, Fachbegriffen, Fragestellungen. Ich habe bereits den „20-Aufgaben-in-5-Minuten„-Test mit ihnen geschrieben, um sie zu ermahnen, genauer zu lesen – aber Sprachförderung ist ein ganz großes Thema bei uns.

„Was haben wir in NW zuletzt gemacht?“
„Wir haben Wasser genommen und es über den Bunsenbrenner getan.“

Ich schöpfe mit der Hand etwas Wasser aus dem Hahn und lasse es über einem Bunsenbrenner fallen.
Ja! Nein! Nicht so. Wir haben das in so ein Ding getan und das auf so ein Teil gestellt.“

Ding? Teil?

Ich nutze die Beratungsstunde gerne für alle möglichen Gesprächsanläße. Von meinem Besuch in Kassel am Wochenende habe ich meiner Klasse ein Foto mitgebracht:

Sprachlosigkeit in der Schule 1

Text auf dem Schild: „Jeder Spieler erhält einen Trostpreis“

„Das bedeutet“, erklärt mir eine Schülerin, „dass man auch dann etwas gewinnt, wenn man nicht trifft. Also eigentlich: Jeder gewinnt.“

Ein Mitschüler widerspricht: „Da steht, jeder gewinnt einen Trostpreis – man kann also nicht gewinnen. Also eigentlich: Jeder verliert.“

Ja, was denn nun?
Deutsch ist ungemein schwierige Sprache – das gleiche Schild kann zwei unterschiedliche, ja, gegensätzliche Bedeutungen haben. Ich werfe folgenden Satz an die Tafel:

Du sollst das Kind auf der Straße umfahren.

Wir diskutieren über die Bedeutung des Satzes, denn ich dann verändere:

Du [nicht: jemand anders] sollst das Kind auf der Straße umfahren.
Du sollst [nicht: kannst] das Kind auf der Straße umfahren.
Du sollst das [dieses] Kind auf der Straße umfahren.
Du sollst das Kind [nicht: den Koffer] auf der Straße umfahren.
Du sollst das Kind auf [nicht: neben] der Straße umfahren.
Du sollst das Kind auf der [dieser] Straße umfahren.
Du sollst das Kind auf der Straße [nicht: dem Bürgersteig] umfahren.
Du sollst das Kind auf der Straße umfahren [überfahren].
Du sollst das Kind auf der Straße umfahren [ausweichen].

Neun verschiedene Geschichten, Interpretationen, Bedeutungen aus einem einzigen, kurzen Satz – wieder zum Teil gegensätzliche Aussagen. Was soll ich tun?

Vieles von dem, was ich erzähle, wird schnell wieder vergessen. Aber ich hoffe, dass das ein oder andere hängenbleibt.

Auch bei mir: Deutsch ist richtig, richtig schwer und ich verlange von meinen Schüler*innen oft mehr, als sie je gelernt haben.

4 Gedanken zu „Sprachlosigkeit in der Schule“

  1. Den 20-Aufgaben-in-5-Minuten-Test muss ich auch mal ausprobieren. Ich habe mir gerade überlegt, ob ich den morgen mal in meinem Zwölfer-LK durchführe…

    …aber die erste Stunde nach dem schriftlichen Abi ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt!

      1. Ich fürchte, ich kann nichts berichten, weil ich die Antwort zu spät gesehen habe – und nun sind Pfingstferien.

        Aber dafür kann ich noch ein anderes – eigentlich banales – Erlebnis schildern, das ich kurz vor Ferienbeginn hatte: Die Sonne war vor kurzer Zeit aufgegangen und schien ins Klassenzimmer. Ich ging also zum Fenster und meinte: „Ich lass mal das Ding runter, weil’s sonst blendet.“

        Kurz darauf musste ich an deinen Blogartikel denken. Das Ding? Gemeint war natürlich die Jalousie! Ganz so verwunderlich ist es dann doch wieder nicht, dass die Schüler so reden, wenn wir es manchmal auch tun.

  2. Lewis Carroll, der Autor von „Alice im Wunderland“, sagte: „Wenn ich jemals wahnsinnig werde, hoffe ich, dass es auf Deutsch ist – das scheint die passende Sprache dafür zu sein.“ 😉

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