Wochenlang habe ich mich auf mein Wochenende in völliger Einsamkeit gefreut und lange überlegt, ob ich überhaupt darüber schreiben sollte. Es scheint widersinnig, einige Tage zu Pilgern, die Abstinenz von Hektik und Alltag zu zelebrieren und im Anschluss genau darüber zu schreiben und wieder in den Trott zu fallen. Warum nicht einfach schweigen? Das Erlebte tief in die Seele einatmen und genießen?
Durchschnittlich atmet ein Mensch etwa 25.000 mal pro Tag. Ein. Aus. Am besten tief in den Bauch und nicht in die Brust. Im hebräischen Original der Bibel (bzw. der Tora) ist das Wort „Atem“ das gleiche wie für „Seele“. Ist das nicht ein interessanter Gedanke? Diese tiefe Verknüpfung von Atem und Geist? Was tue ich mir an, wenn ich tief und bewusst atme?
Wenn ich dieses Wochenende hier niederschreibe, dann nicht, um ihm den Zauber zu nehmen sondern, ganz im Gegenteil, ihn in meinem Bewusstsein zu halten. Ein Aufschreiben gegen das Vergessen, gegen meinen Alltag.
Meine erste Tour hat mich Freitag über einige Stunden durch die Wälder an der Rur entlanggeführt. Ich habe mir im Vorfeld eine dieser Wanderapps heruntergeladen und mir wochenlang die Strecke zusammengebastelt. Außerdem habe ich über meine Lauf-App zahlreiche Freunde herausgefordert. Wenn ich schon laufe, dann wollte ich Tirby aus Kamerun, Steffie aus Holland und Cin aus Brasilien deklassieren. Das widerspricht zwar dem Geist des Pilgerns – aber die Chance hätte sich nichtmal der heilige Franziskus entgehen lassen! In der Wirklichkeit angekommen habe ich mich dann aber kein einziges Mal an meine Pläne gehalten. Weder die vorbereiteten Karten, noch meine Laufapp hat mich besonders interessiert und bin mal hierhin und mal dorthin abgebogen. Zunächst noch mit der nervigen Stimme der App in der Hosentasche „Sie beschreiten ungeplante Pfade!“, später ohne. Meiner Familie habe ich im Vorfeld angekündigt, dass ich mein Handy so weit wie möglich abschalten wolle und diese Entscheidung war gut. Mehr als die acht Fotos in diesem Beitrag habe ich auch nicht geschossen.
Als Sparhammel und Pfennigfuchser habe ich im Vorfeld vor allem nach einer günstigen Unterkunft gesucht. Ich bin ziemlich anspruchslos. Meine Kochkünste sind überschaubar und mehr als Bett und Toilette benötige ich nicht. Also mietete ich das billigste Loch Appartment, das ich finden konnte und erwartete nicht mehr als eine Holzpritsche und ein Schälchen mit Wasser. Ich habe schon unter Nonnen im Kloster übernachtet und mir in London mit einem Kollegen ein Etagenbett geteilt – was soll mich noch schocken?
Überraschenderweise war das Appartment aber fantastisch. Klein natürlich. Und nur durch eine Holztür und dürre Wände von luxuriösen Nachbarwohnung getrennt. Aber es gab ein Bett, eine Küche und eine fantastische Dusche, unter die ich in ganzer Länge passte. Meine Nachbarn waren eine gutgelaunte Gruppe von vier oder fünf Mountainbikern aus Frankreich oder Belgien. Wir haben uns kurz und nett unterhalten, ich noch beseelt von meiner kontemplativen Reise, „Tommy“ schon etwas angeschickert und definitiv sehr gut gelaunt. Weil mein Bett kein offenes Ende hatte, habe ich auf dem Boden geschlafen – aber das passte mir ganz gut. Klingt so entbehrungsreich und demütig.
Resümee des ersten Tages: Viele Stimmen im Kopf die kaum verstummen. Beine okay. Wenig bis gar nichts gegessen. Und was auch immer die Jungs drüben in der Nachbarwohnung trieben (nun, es war offensichtlich) – sie hatten Spaß bis tief in die Nacht.
Am zweiten Tag habe ich mein Handy komplett abgeschaltet. Nur hin und wieder auf die Route geschaut, damit ich mich nicht völlig verlief. Langsamer geatmet. Es gibt da diese Geschichte über einen Schäfer namens Mose, dem Gott erscheint. Gott spricht durch einen brennenden Busch und trägt dem einfachen Schäfer auf, die Schuhe auszuziehen, weil er auf heiligem Boden stehe. Mose ist auf diesem Boden seit vielen Jahren gelaufen – ich glaube nicht, dass er plötzlich heilig wurde. Nicht der Boden hat sich verändert, Mose hat ihn anders betrachtet. Und das warf in mir die Frage auf, ob ich nicht auf heiligem Grund laufe?
Mittags kurz das Handy eingeschaltet um zu vermelden, dass ich noch am Leben bin – und sofort zahlreiche Mitteilungen erhalten. Emails, Whatsapp, Twitter, Facebook. 900 neue Artikel in meinem Feedreader. Bamm Bamm Bamm. Innerlich war ich hin- und hergerissen zwischen dem Genuss von Technik und der Stille der Natur. Handy weg. Nur noch laufen. Atmen. Laufen. Auf vielen Bänken gesessen und ins Tal geschaut. Die Stimmen im Kopf sind leiser geworden und oft gar nicht zu hören gewesen. Ich habe nicht an anstehende Projekte gedacht oder mir Gedanken über die Zukunft gemacht. Noch weniger gegessen, als am Vortag und das Bewusstsein für eine körperliche und seelische Fastenzeit bekommen. Nur noch laufen.
Abends dann nach einer heißen Dusche früh ins Bett. Resümee des zweiten Tages: Es wird leiser. Zumindest in meinem Kopf. Nicht bei Tommy drüben.
Mein letzter Tag war tatsächlich mein Höhepunkt. Führte mich der gestrige Pfad noch durch Wälder, die so ähnlich auch vor meiner Haustür wachsen, war Sonntag alles.. intensiver. Frischer. Neu. Ein krasser Mix aus ganz unterschiedlichen Gegenden. Mein Weg führte mich zunächst über sanfte Hügel von wo aus ich im Nebel die Rur sehen konnte (dieser Moment hat sich mir wirklich tief eingegraben)…
…später dann in moorigem Wald.
Da herrschte in meinem Kopf schon wirklich Stille. Der Pfad führte mich entlang einer kleinen Waldkapelle, verwandelte sich irgendwann in einen Abenteuerpfad und es ging steile Böschungen entlang und hier und da waren Seile zum Festhalten gespannt. Nur noch laufen. Atmen. Laufen. Auf heiligem Boden.
Irgendwann öffnete sich der Wald vor mir. Urplötzlich. Von einem Schritt auf den nächsten war ich in dieser endlosen Weite unter strahlend blauem Himmel. Hin und wieder begegnete ich anderen Wanderern. Stets wurden freundliche Worte getauscht aber letztlich war niemand auf der Suche nach Gesellschaft.
Dieser letzte Tag ist tiefer in mich eingedrungen als die davor. Es war, als wären all die Stimmen und Gedanken und Pläne zu Hause geblieben. Drei Tage lang gefastet und nur gelaufen. Das hat wahnsinnig gut getan.
Auf dem Rückweg, kurz vor der Autobahn noch in Aachen bei einem Bäcker angehalten, einen furchtbar süßen Cocochino getrunken, Streuselbrötchen gegessen und bestimmt eine Stunde die Sonne genossen und an absolut Nichts gedacht. Als wäre ich in einer Zeitblase gefangen und könnte einfach für immer nur dort sitzen und glücklich sein (und den Mountainbikern bei ihrer Swingerparty zuhören). Als ich mein Smartphone wieder einschalte, prasselt eine Kakophonie von Mitteilungen auf mich ein.
Ich schalte wieder ab. Heute bin ich noch nicht soweit.
Ich habe mir viel in meinen Alltag mitgenommen. Wenn ich Projekte verfolge oder Zeit investiere, dann mache ich das stets sehr, sehr intensiv und bewusst. Es mag ob der kurzen Zeit überhöht oder sogar lächerlich klingen, aber diese Tage habe ich so intensiv eingeatmet, dass sie sich tief eingegraben haben. Das werde ich spätestens nächstes Jahr ganz sicher wiederholen und vielleicht werde ich das Smartphone dann einfach komplett zu Hause lassen.
Das sieht nicht nur wunderbar aus, sondern klingt auch so! Danke, dass du uns auf diese Weise ein wenig mitgenommen hast. 🙂 Verrätst du uns, wo du diese herrlichen Aufnahmen hast machen können? Mir täte ein wenig Auszeit und Ausblick auch gut und die Bilder sind herrlich!
LG Sandra
Ich schicke dir die groben Reisepläne einfach per Mail. 🙂
Bei allen Pfaden bin ich aber stark abgewichen. Hilfreich war die App „Komoot“, um die Route zu planen, dort sind auch alle möglichen Wege eingespeist.
Anm. ich hätte dir die Pläne geschickt – aber deine Mailadresse scheint nicht zu stimmen :-/
Vielen Dank!! Auch für die guten Tipps. 🙂
Das ist ja eigenartig… der Mailaccount ist nicht zu voll. Ich gebe mal meine zweite Adresse ein, vielleicht klappt die besser?
perfekt 🙂
Hab herzlichen Dank! 🙂
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