Unterrichtsanekdoten haben zuletzt wenig Platz hier gefunden. Das liegt zuvorderst daran, dass ich deutlich weniger unterrichte als früher und mich mehr Schulorganisation beschäftige. Aber ehrlicherweise geht vieles auch einfach in meinem Arbeitspensum unter: Mir fehlt schlicht die Zeit, über die lustigen oder ernsten Dinge zu schreiben. Und doch machen sie einen ganz wesentlichen Teil dieses Berufes aus.
Als ich heute zu meinem Referendar in den Klassenraum der 7er kam, war die Lerntheke verschwunden. Von jetzt auf gleich. Letzte Woche war sie noch da – nun weg.
Also suchten wir. Unter den Tischen. Im Regal. In den Ablagen. Aber nichts. Theatralisch wie ich bin, beschuldigte ich wild einzelne SchĂĽler und da keimte schon der erste Verdacht in mir. Denn eine SchĂĽler wehrte sich eine Spur zu empört und als ich – gespielt dramatisch – noch etwas tiefer bohrte, formulierte sie ungeschickt sinngemäß etwas wie „also ich weiĂź nicht wo die Karten sind.“
Die Stimmung drohte langsam aber sicher zu kippen. Weder ich, noch mein Referendar hatten Lust, die Klasse eine volle Schulstunde lang rumdĂĽmpeln zu lassen, nur weil irgendwer die Karten versteckt hatte. AuĂźerdem – na klar – funktioniert der Trick einmal, funktioniert er auch mehrmals.
Auch auf mehrfache Anfrage äußerte sich niemand. Nein, nein! Keine Ahnung!
Es wurde weitergesucht und irgendwann, nach 15 Minuten, tauchten die Karten auf. „Oha“, rief jemand ganz ĂĽberrascht. „Jemand hat sie in einen Atlas gesteckt!“
Ich wollte wissen, wer sie nun versteckt habe und erhöhte langsam den Druck. „Die fĂĽnfzehn Minuten die ihr mir geklaut habt, hole ich mir nächste Woche Freitag, bei der Zeugnisausgabe, zurĂĽck.“
Große Empörung. Ich könne doch nicht alle bestrafen, nur weil womöglich und vielleicht ein oder zwei Mist gebaut hätten?
Doch ich blieb dabei. Man könne ja durchaus Mist bauen, aber dann muss man auch dazu stehen. Und wenn sie als Klasse entschieden, sich gegenseitig zu decken, dann sei das aller Ehren wert – aber dann mĂĽssten sie das auch aushalten.
Ob ich denn wolle, dass man die Täter verriete, wurde ich gefragt.
Aber das wollte ich nicht. Ich wollte Ehrlichkeit. Und Vertrauen. Und, dass man fĂĽr seinen Mist geradesteht. „Wenn die Verantwortlichen dafĂĽr gerade stehen mit allem, was dann folgt, dann ist das wunderbar und ein Zeichen, dass man erwachsen wird. Wenn sie das aber nicht wollen und mehr Zeit brauchen, um diesen Schritt zu machen – dann kann ich auch sehr gut damit leben. Aber jetzt wollen wir arbeiten.“
Es dauerte nicht lang, da standen zwei Halunken vor mir. NatĂĽrlich jene, die zuvor lautstark ihre Unschuld beteuert und die Ungerechtigkeit meiner Haltung am lautesten beklagt hatten. Zerknirscht gaben sie zu, die Karten versteckt zu haben.
Ich geleitete sie raus in den Flur um mit ihnen darĂĽber zu sprechen, aber noch bevor ich etwas sagen konnte, murmelte einer: „Bekommen wir jetzt eine Note schlechter auf dem Zeugnis?“
Oh weh!
In der 7. Klasse sind die Zeugnisnoten kursentscheidend. Eine Note schlechter hätte unter Umständen das Verpassen des E-Kurses bedeutet – welchen Druck der Kerl wohl gerade verspĂĽrt hatte!?
Am Ende fĂĽr mich ein guter Tag.
Schön, dass die Kinder auch mal Kinder sind und sich trauen, Grenzen auszutesten. Und noch schöner, dass sie dafür den Kopf hinhalten. Dass sie ehrlich sind. Als Lehrer*In haben wir oft mit Kindern zu tun, die es zu Hause schwer haben. Die geplagt sind von Sorgen und überforderten Eltern. Die soviel Leid erleben, dass es für drei Leben reicht.
Außer einem pädagogischen Tritt in den Allerwertesten gab es keinerlei Konsequenzen. Und nach solchen Tagen hoffe ich, dass meine Schülerinnen und Schüler lernen, dass Ehrlichkeit etwas Gutes ist. Das Vertrauen ein Wert ist, den es zu beschützen gilt. Und, dass nicht nur die Schule, sondern ihr ganzes Leben gemeinsam deutlich einfacher läuft, als alleine.