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„…ich möchte Dachdecker werden!“

Florian zieht mich zur Seite, Hammer und Beitel in den Händen. „Herr Klinge, haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wie wir das Dach decken wollen?“
Ich komme gar nicht zu einer Antwort: „Die Sache ist nämlich. Ich möchte nämlich Dachdecker werden und hätte eine Idee für unser Hühnerhaus…“

"...ich möchte Dachdecker werden!" 1Seit dem Sommer arbeiten wir an unserem großen Projekt. Nach der Besichtigung des Geländes und einer ersten und zweiten Projektphase haben wir mittlerweile nicht nur Haus im Modell gebaut, sondern auch das Fundament gesetzt und messen, sägen und verschrauben aktuell das echte Haus.

Das ganze Vorhaben macht mir soviel Spaß, weil ich das noch nicht gemacht habe. Ich bin neugierig, habe keine Ahnung, welche Hürden noch vor uns liegen und genieße jede Stunde und jede neue Herausforderung.

Ich beobachte bei meinen Schülern weit größere Entwicklungsschritte, als sie sich vermutlich selbst zugestehen: Mit jedem Balken und jedem Schnitt wachsen Interesse und Bereitschaft, über das schulisch Notwendige hinauszugehen.

"...ich möchte Dachdecker werden!" 2

Es ist „ihr“ Projekt geworden und viele Puzzlesteine aus den vergangenen Jahren fügen sich plötzlich zusammen. Richtig messen. Richtig sägen. Richtig bohren. Plötzlich geht es nicht mehr um ein kleines Modell für den Schreibtisch. Plötzlich sind die Balken so schwer, dass man sie nur zu zweit stemmen kann. Plötzlich benötigt man zwei, drei, vier Leute um zu bohren, zu sägen, gegenzustemmen.

Meine Schüler fühlen sich ein Stück weit erwachsener und ich behandle sie auch so. Mehr Vertrauen, mehr Verantwortung. Wir treffen immer wieder gemeinsam neue Entscheidungen: Den Querbalken nur verschrauben oder eine Aussparung sägen? Was der Kurs entscheidet, wird gemacht.

Aus der Lehrerperspektive ist für mich hilfreich, das ganze Projekt immer wieder im Kopf in Phasen zu zerlegen. Theorie und Praxis abzuwechseln. Den Schülern Raum und Zeit zum Reflektieren und Engagieren zu geben.

"...ich möchte Dachdecker werden!" 3Als ich mich im Frühjahr mit meiner Kollegin Anna Klein Stunden um Stunden zusammengesetzt und wir alle unsere Gedanken zum Projektunterricht sortiert und zwischen zwei Buchdeckel gepresst haben, hatte ich genau diese Situation im Kopf: Mitten in einem Projekt stecken und doch jedem Schüler zu jeder Zeit Rahmen und Orientierung bieten können. Als Lehrer nicht verloren gehen und trotzdem den Arbeitsprozess in den Vordergrund stellen und permanent Rückmeldung geben. Eine Kultur des Ausprobierens und Fehlermachen-Dürfens schaffen. Verbindliche Gespräche über Verlauf, das eigene Schaffen und die eigenen Ziele führen. Immer wieder nehme ich mir einzelne Schüler aus der Gruppe heraus und lasse sie ihre Rolle in der Gruppe reflektieren. „Wie verhalten sich die anderen Dir gegenüber? Welchen Einfluss hast du auf die Gruppe? Welche Gefahren, welche Möglichkeiten bietet das? Was ist dein Anteil am Projekt?“

"...ich möchte Dachdecker werden!" 4Heute zieht mich Florian zur Seite – der angehende Dachdecker. Was denn meine Pläne zum Dach seien, fragt er mich.

Und wächst um zwei Zentimeter, als ich ihm dieses Dach als sein Projekt anvertraue. Er wird sich erkundigen, verschiedene Möglichkeiten des Deckens recherchieren, Kontakt zu einem Dachdecker aufnehmen und versuchen, ihn einzuladen um uns fortzubilden und im neuen Jahr seine Ergebnisse der Gruppe vorstellen. Genau so stelle ich mir das vor: Mich selbst überflüssig machen, den Schülern die Gelegenheit geben, initivativ zu werden und Verantwortung zu übernehmen.

Der Wahlpflichtkurs in der 9 ist zu einer gewaltigen Spielwiese geworden und obwohl ich alle meine Kurse wirklich liebe: Dieser hier ist Urlaub und ich freue mich unbändig auf jede neue Stunde.

 

 

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